25. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2022

Eine Strategie der globalen Konfrontation

von Lutz Kleinwächter

Präsident Joe Biden legte am 12. Oktober die „Nationale Sicherheitsstrategie“ seiner Regierung vor. Seit Mitte der 1980er Jahre repräsentiert dieses Leitdokument Interessen, Werte und Ziele der jeweiligen Administration sowie Instrumente und Ressourcen zu deren Durchsetzung. Das 48-Seiten-Papier wurde wegen „wichtiger Erkenntnisse“ aus dem Russland-Ukraine-Krieg mit Monaten Verspätung vorgelegt.

Systemkampf. Im Wesen soll es eine Zukunftsstrategie sein, in „Konkurrenz darum, was als nächstes kommt“ (Teil I) – ein globaler Systemkampf im 21. Jahrhundert. Er „wurzelt in unseren nationalen Interessen“, meint Biden in Kontinuität zu Trump. Grundorientierung gibt die ominöse Kategorisierung von „Demokratien versus Autokratien“. Dezidiert heißt es im Vorwort: „Wir befinden uns in den ersten Jahren eines Jahrzehnts, das für Amerika und die Welt entscheidend sein wird. […] Die Bedingungen der geopolitischen Konkurrenz zwischen den Großmächten werden festgelegt.“ Die „revisionistischen Mächte“ China und Russland sowie ihre Verbündeten (Iran, Nordkorea, Kuba, Venezuela, Nicaragua) wollen demnach eine neue Weltordnung schaffen, die nicht mehr auf Regeln beruht, wie sie die USA angeblich aufgebaut haben.

Ein zentraler Schwerpunkt für die USA-Regierung ist es, die Trennlinie zwischen Innen- und Außenpolitik, Binnen- und Außenwirtschaft aufzulösen. Stärke im In- und im Ausland seien „untrennbar miteinander verbunden“. Um globale Herausforderungen zu bewältigen, müsse durch Investitionen im eigenen Land die Konkurrenzmacht gestärkt werden. Hervorgehoben wird, dass dieses entscheidende Jahrzehnt von Handelskriegen und Wirtschaftssanktionen begleitet sein dürfte. Die USA wollen damit ihre Standards für die globale Wirtschaft durchsetzen. Die binnenwirtschaftlichen Investitionen und der Welthandel werden darauf ausgerichtet, dass die internationale Ordnung US-amerikanischen Werten und -Interessen entspricht. Dabei geht es um die Lieferketten, den Bau von Chip-Fabriken, aber auch um eine aggressive Inflationsbekämpfung. Ein Programm, die Wirtschaft „von unten und aus der Mitte“ wachsen zu lassen.

Politik der Stärke (Teil II). Die USA verstehen sich als „globale Macht mit globalen Interessen“, die ihre Beziehungen zu „demokratischen Verbündeten und Partnern im indopazifischen Raum und in Europa“ stärken will. Sie streben danach, ihre Präsenz in diesen Regionen auszubauen. Als Transatlantiker und Interventionist bekennt sich Biden im Unterschied zu Trump zur Vertiefung bestehender Bündnisse, zur engen Zusammenarbeit mit der NATO und der Europäischen Union, inklusive entsprechender Forderungen an Großbritannien. Gefordert werden vor allem Investitionen sowohl in eine Modernisierung des (eigenen) Militärs als auch in die Infrastruktur.

Militärisch setzt die Nationale Sicherheitsstrategie „auf integrierte Abschreckung: die nahtlose Kombination von Fähigkeiten, um potenzielle Gegner davon zu überzeugen, dass die Kosten ihrer feindseligen Aktivitäten höher sind als ihr Nutzen. Das erfordert: Integration über Domänen hinweg, in der Erkenntnis, dass die Strategien unserer Konkurrenten über militärische […] und nicht-militärische (wirtschaftliche, technologische und Informations-) Domänen hinweg operieren“. Dieses Schlüsselkonzept fußt auf Trumps nationaler Verteidigungsstrategie von 2018: „Wir werden alle Elemente unserer nationalen Macht einsetzen, um uns im Konkurrenzkampf gegen unsere strategischen Mitbewerber durchzusetzen.“ Wichtig sei es, das Militär zu modernisieren, damit es für die „Ära des strategischen Wettbewerbs“ gerüstet sei. Angekündigt werden weitere Hochrüstung und Vergrößerung des Militärs sowie eine stärkere „Einbindung der Wirtschaft“ in die Kriegsführung für einen „Sieg im Wettbewerb um das 21. Jahrhundert“. „Unsere Militärmacht wächst weiter.“ Deshalb, so heißt es unterschwellig drohend, „sehen andere Staaten wieder, warum es nie eine gute Idee sein kann, eine Wette gegen die USA einzugehen“.

Die „nukleare Abschreckung“ hat „weiterhin hohe Priorität“ und ist „von grundlegender Bedeutung“ für die Strategie der USA. In diesem Zusammenhang konstatiert Biden, dass die zu beobachtende Schwäche der konventionellen russischen Streitkräfte womöglich die Bereitschaft Russlands zum Einsatz taktischer Nuklearwaffen erhöhen könnte. Die USA würden jedoch „nicht erlauben“, durch Einsatz oder auch nur Drohung mit Atomwaffen andere Staaten unter Druck zu setzen. Was das aber heißt, wird nicht erläutert.

Das Interesse der USA an „strategischer Stabilität und der Entwicklung einer umfassenderen, transparenteren und überprüfbaren Rüstungskontrollinfrastruktur für den Erfolg von New START und die Wiederherstellung der Europäischen Sicherheitsmechanismen“ wird betont, ohne es weiter auszuführen.

Hauptgegner China und Russland. Im Rahmen der „globalen Prioritäten“ (Teil III) und des Endes der „Nach-Kalter-Krieg-Ära“ sei es notwendig, dem „russischen Imperialismus“ und den „Ambitionen Chinas“, die sich „immer mehr annähern“, entgegenzutreten. Beide Staaten stellten indes trotz ihres gemeinsamen „Revisionismus“ unterschiedliche Herausforderungen dar. Russland „stellt eine unmittelbare Bedrohung für das freie und offene internationale System dar und verstößt gegen die grundlegenden Regeln der derzeitigen internationalen Ordnung, wie sein brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine gezeigt hat“. Diese Herausforderung wäre jedoch nicht stark genug, wie das Scheitern der Invasion in der Ukraine zeige.

Im „Kontrast“ dazu sei China „der einzige Konkurrent, der die internationale Ordnung umgestalten will und zunehmend über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, um dieses Ziel zu erreichen“. Es wäre damit der Hauptrivale, den es zu besiegen gelte: „Peking will seine Einflusssphäre im indopazifischen Raum erweitern und die führende Macht der Welt werden.“

Dennoch betont die Biden-Regierung, auch mit Gegnern wie Russland und China zu kooperieren, um globale Probleme anzugehen, die sonst nicht lösbar seien: Klimakrise, Pandemien, Ernährungssicherheit.

Regionalstrategien (Teil IV). Die Niederlage im 20-jährigen Afghanistankrieg hat gravierende Auswirkungen auf die Regionalstrategien der USA. Die ziehen sich weitgehend aus dem Nahen Osten zurück, der „Krieg gegen den Terrorismus“ hat zugunsten des „Systemkampfes“ keine zentrale Bedeutung mehr. Die Begriffe „Regime Change“ und „Nation Building“ sind out.

Bereits unter Trump angedeutet, zeigt sich bei Biden ein deutliches Desinteresse am Nahen Osten. Die arabischen Staaten und Israel sollten ihre Annäherung nun selbstständig regeln. Weitergehende Pläne seien zu verwerfen zugunsten von „pragmatischeren Schritten, die die amerikanischen Interessen voranbringen“; „Stabilität und Wohlstand“, bei Hintanstellung von Demokratie und Menschenrechten.

Zwei rote Linien werden definiert: keine Bedrohungen für den Schiffsverkehr in der Straße von Hormus und Bab al-Mandab am Roten Meer; keine Versuche von Staaten in der Region, andere durch Aufrüstung, Angriffe oder Drohungen zu dominieren.

Die westliche Hemisphäre (Lateinamerika und Karibik) nimmt in den Regionalszenarien eine herausragende Position ein. Eine Renaissance der Monroe-Doktrin von 1823. Ziel der Außenpolitik der USA gegenüber „Unserem Amerika“ (Nuestra América) ist es, Staaten mit hohem Bedarf an natürlichen Ressourcen, wie China, Russland, Iran und auch Indien, von diesen Breitengraden fernzuhalten, und zwar in allen Bereichen: wirtschaftlich, technologisch, militärisch, diplomatisch und kulturell. In der Zusammenfassung heißt es, „keine Region hat einen direkteren Einfluss auf die USA als die westliche Hemisphäre“, aus deren demokratischer und institutioneller Stabilität die USA wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vorteile ziehen.

Fazit. Die Schlussfolgerungen (Teil V) wie auch das Biden-Vorwort strotzen vor arroganter Selbstüberhöhung: „Auf der ganzen Welt ist der Bedarf an amerikanischer Führung so groß wie nie zuvor.“ Als ökonomisch und militärisch stärkste Weltmacht verkennen die USA historische Realitäten und voraussehbare Entwicklungen. Ihre Sicherheitsstrategie ist teils oberflächlich und propagiert bekannte Demagogie, sie bleibt hinter der Notwendigkeit einer realistisch-nüchternen Analyse zurück. Markante Defizite sind:

  • Die Kräfteverhältnisse im globalen Systemkampf werden seitens der USA zu stark vereinfacht. Der letztlich bipolare Ansatz USA versus China/Russland ist eher eine Anleihe am Kalten Krieg des vorigen als eine realistische Strategie in der Multipolarität des 21. Jahrhunderts;
  • Sicherheit wird primär konfrontativ militärisch verstanden; bei Aufwertung der Wirtschaft;
  • Die Furcht vor der Entwicklungsdynamik Chinas blockiert die Lösung globaler Probleme;
  • Die strategische Partnerschaft China/Russland wird in Tiefe und Dauerhaftigkeit unterschätzt;
  • Der strategisch „entscheidende 10-Jahres-Zeitraum“, den Biden (und auch Putin) postulieren, ist zu kurz kalkuliert. Eine Dimension mehrerer Jahrzehnte, wenn nicht des Jahrhunderts, sind angemessen;
  • Die globale Friedens- und Entwicklungspolitik sowie Rüstungskontrolle sind in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Biden-Regierung programmatisch völlig unterbelichtet. Sie ist eine widersprüchliche Gemengelage aus Realismus, Machtarroganz und Fehleinschätzungen. Mit dieser (Un)Sicherheitsstrategie werden die USA im Systemkampf ins Hintertreffen geraten.