Im Rügenschen Kreis- und Anzeigenblatt vom 20. Juli 1904 bot Julius Gerholt aus Baabe in einer Anzeige „ein Grundstück, 86 Ar 19 M., im ganzen oder geteilt“ zum Kauf an. Die Hälfte des an der Landstraße „nahe der Forst“ gelegenen Grundstücks sei mit 50-jährigen Eichen bewachsen, für Bauten gäbe es keine Hindernisse. „Sehr passend zu Villa für Badegäste.“ Der Preis pro Quadratmeter wurde mit „im einzelnen 1 M.; im ganzen billiger“ angegeben.
Am 27. Juli 1904 berichtete das gleiche Blatt, dass die an der Baaber Damm- und Hauptdorfstraße gelegene Besitzung des Händlers Gerholt, bestehend aus etwa dreieinhalb Magdeburger Morgen Land von der Gräfin Schimmelmann erworben worden sei. Statt des Kaufgeldes erhielt Gerholt eine jährliche Leibrente von rund 400 Mark. „Möchte auch dieser Besitzwechsel zur baldigen Hebung unseres Seebadeortes beitragen“, hieß es in dem Zeitungsbeitrag.
Wofür die durch ihre Seemannsheime bekannte Gräfin das Grundstück erworben hatte ist nicht bekannt. Vielleicht wollte die Gräfin in Baabe ursprünglich eines ihrer Lesezimmer einrichten, die Bestandteile ihrer missionarischen Tätigkeit waren und den Fischern und Seeleuten religiöse und weltliche Literatur zur Verfügung stellten. Doch das Rügensche Kreis- und Anzeigenblatt meldete bereits am 16. August 1904, dass nunmehr der als Kurgast in Sellin weilenden Kaufmann Ott aus Steglitz bei Berlin das Grundstück von der Gräfin Schimmelmann käuflich erworben hatte.
Im Dezember 1908 schließlich befasste sich das Blatt mit der „eigenartigen Lebensgeschichte“ des inzwischen tot in seiner Wohnung aufgefundenen Einsiedlers Julius Gerholt.
Gerholt, in Schlesien geboren, soll seinen Vater, der sich kaum um die Erziehung des Sohnes gekümmert habe, nur in unguter Erinnerung gehabt haben. „Mein Vater gehört zum Stamme der Rindsviehe“, war Gerholts Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft. Sein Leben, so die Zeitung, habe er verschlossen, einsam, unbeweibt und ohne jeden wirklichen Freund scheinbar freudlos verbracht. Solange er noch rüstig war, habe er mit allerlei Gebrauchsgegenständen hausiert, musste dies aber wegen eines körperlichen Leidens aufgeben.
Mit seinem mühsam erworbenen Geld wollte der nun etwa Siebenundsechzigjährige in Baabe ein Haus bauen, in das möglichst auch eine Frau einziehen sollte. Das zweistöckig angelegte Haus wurde jedoch aus Geldmangel nie fertig gestellt. Dennoch wohnte Gerholt rund 20 Jahre in dem unfertigen Gebäude. Fremden, die ihn sehen wollten, gewährte er nur ungern Zutritt. Wenn jemand etwas von ihm kaufen wollte, reichte er dies durch das Fenster. Wenn allerdings doch jemand das Haus betreten konnte, kam der aus dem Staunen nicht heraus, wie ein Mensch in dieser Umgebung und Lebensweise so alt werden konnte. Die Wände des einzigen mit Glasfenstern versehenen Raumes waren unverputzt, statt der Dielen lagen auf den Schwellen einige Bretter und der „Ladentisch“ mit seiner Hausierware war eine Hobelbank. In der Ecke stand eine alte Bettstelle, belegt mit Säcken, statt Gardinen wurden die Fenster durch Spinnweben geziert.
Die Kleidung Gerholts schien aus tausend unterschiedlichen Stücken zu bestehen, Körperpflege betrieb er wohl nur sehr selten.
Einmal wurde er mit einer alten Schubkarre im Dorf gesehen, in der sich angeblich ein Gänsebraten befunden haben sollte. Treuherzig bekannte er einige Tage später: „Die Suppe war gut; doch das Fleisch bliebe zähe. Ich kochte sie einmal, ich kochte sie zweimal, und als ich sie zum dritten Male kochte, da merkte ich, daß es ’ne alte Katze war.“
Gerholt, so das Rügensche Kreis- und Anzeigenblatt, war grundehrlich, vergriff sich trotz häufiger Not nicht an fremdem Eigentum, nahm selten fremde Hilfe an und bettelte nie.
Sein einziger Gesellschafter war ein Ziegenbock, der im Sommer in Gerholts Eichenwäldchen weidete und die größte Freude seines Besitzers war.
Einer der wenigen Besucher, denen Gerholt doch Zugang zu seinem Haus gewährte, war der Göhrener Fotograf und Pensionsbesitzer John Horneburg. Als Horneburg sich mit Freunden im Baaber Hotel „Fortuna“ vergnügte, kam das Gespräch auf den Einsiedler: „Trotz allem ihm anhaftenden Spott speciell wegen seiner unappetitlichen Lebensweise aber bleibt er Allen interessant ob seiner seltenen geistigen Frische und Klugheit, zumal auch weil ihn der Nymbus des Reichthums umgibt.“
Horneburg, der seine Kontakte in dem Büchlein „Ein Sonderling auf Rügen – seine Lebensgeschichte und sein Weihnachtsfest 1902“ veröffentlichte, verdankt die Nachwelt weitere Einzelheiten: Julius Ludwig Alois Gerholt wurde im Januar 1821 in Schlesien als Sohn eines Schuhmachers geboren. Bis zum 12. Lebensjahr habe er in Schlesien die Schule besucht, danach bei seinem Vater das Handwerk erlernt. Durch „Spielwuth“ und den Hang zum Trunk war das Vermögen seines Vaters bald dahin.
Gerholt arbeitete einige Jahre in Stralsund als Geselle, hatte dort eine „Liebschaft“; doch da deren Vater sich als Schneider bessergestellt sah als ein Schuster, bekam der die Tochter nicht. Inzwischen, um 1848/50, verteuerten sich die Lebensverhältnisse und die Leute wollten nicht viel für Schuhmacherarbeit ausgeben. So gab Gerholt sein Gewerbe auf und gründete mit einem Handelsmann eine „Compagnie-Gesellschaft“, die Fisch auf- und weiterverkaufte – allerdings mit Verlust. Daraufhin zog Gerholt allein weiter und handelte nun mit Zwirn, Nadeln, Knöpfen, Haken und Ösen. Dieser Handel lief besser und so kam er nach Rügen, wo es noch nicht viele Krämer gab. Hier machte er gute Geschäfte, zumal er sparsam war und nicht trank.
Es vergingen weitere 20 Jahre, in denen sich Gerholt auf Mönchgut ein kleine Stube mietete, in der er sein Warenlager hatte, aus dem aber während seiner Abwesenheit wohl öfter Ware und Geld gestohlen wurden. Bald kaufte er ein Stück Land in Baabe (wohl viel zu teuer) und begann mit dem Bau seines Hauses. Tag für Tag trug er seine große Butte, die, mit Waren gefüllt 40 bis 60 Pfund schwer war, zu seinen Kunden, bis ihn ein körperliches Leiden rund sieben Jahre ans Bett fesselte. Keiner kümmerte sich um ihn – er glaubte, weil er kein Katholik sei, doch lag es wohl eher an seinem Wesen, der Art seiner Existenz und seiner Unsauberkeit. Er selbst sagte lakonisch: „Glauben Sie nicht, daß mir dieses Hundeleben so gefällt, freilich hätt’ ich´s gern a bissl besser, aber na, seh’n Se, woas hilft’s. “
Weder mit dem Hausbau noch mit verschiedenen seiner Projekte – so wollte er unter anderem Erdbeeren und Wein anbauen und Champignons züchten, wofür ihm aber Geld, Wasser und Dünger fehlten – ging es wirklich voran. So kam es zu dem geschilderten Zustand in seinem Haus. Bezeichnend daher sein Hinweis, dass er im Winter manchmal unter alten Bettsäcken im Keller schlafe, dort sei es nicht so kalt.
Während Gerholt von seinem Leben erzählte, machte er gegenüber Horneburg eher den Eindruck eines MittSechzigers und nicht den eines 82 Jahre alten Greises. In anderer Umgebung und in anderem Gewand könne man in Versuchung kommen, ihn für einen würdigen Universitätsprofessor zu halten. „Vorerst hätte er jedoch unter die Pumpe und Weiber ihn mit Hacke und Hüper, mit Seife und Bürste bearbeiten müssen.“
1902, an einem Weihnachtstag, fuhr Horneburg zusammen mit einem Freund mit dem Rasenden Roland nach Baabe, um den Einsiedler erneut zu besuchen. Sie fanden aber zunächst nur das Haus mit durch Sturm abgedecktem Dach und einer klaffenden Öffnung an der Südseite. Wenig tauchte Gerholt dann doch auf. Glücklicherweise sei er während des Sturms in seinem Keller gewesen. Nun wolle er das alte Haus abtragen lassen und daneben ein kleineres Gebäude aufbauen. Als sich Horneburg über den Unternehmungsgeist des 82-jährigen wunderte, richtete sich dieser auf und rief fast heftig: „Herr, der Mensch muß arbeiten und ringen, so lange wie noch ein Athemzug da drinnen ist! – Damit halte ich es.“
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