26. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2023

„stadtgang“ – eine Erinnerung an den verstorbenen Dichter Wulf Kirsten

von Ulrich Kaufmann

Während einer Lyriklesung zu Beginn des Jahrtausends überraschte Wulf Kirsten gleich doppelt: Als einer der bedeutendsten Landschaftslyriker der Gegenwart trug er ein Stadtgedicht vor, welches eine für ihn ungewohnte politische Schärfe besaß.

 

stadtgang

 

alltäglich herdenweise berufstouristen,
nicht gut zu fuß, angeblich kulturbeflissen,
alles nur wegen Goethe, den die stadt
als lockvogel einsetzt, seit sie ihn
zum gipskopf verkommen ließ, während ich,
den stadtbilderklärern eilends entweichend,
nach einer audienz bei Herzogin Anna Amalia
den marktplatz querte, stand einer,
touristisch gewaffnet im lodenlook,
wie vernagelt mit seinem gerät, als ich
unversehens durch sein blickfeld lief,
das sehr begrenzt war, bekennerhaft
rief er mir nach: du linke sau, du!

 

Fasst man das einzige Ausrufezeichen am Ende der gleichfalls einzigen wörtlichen Rede („du linke sau, du!“) als Interpunktionszeichen für das Satzende auf, so besteht der einstrophige Gedichttext aus drei Sätzen. Zunächst wird durch die Reihung ein Vorgang in einem Langsatz erzählt, anschließend folgt – wie bei einem Balladenurteil – in zwei knappen, wertenden Sätzen ein siebenzeiliger Kommentar.

 

sein zuspruch, herzerfrischend bajuwarisch,
wenn auch haarscharf angepöbelt, war
zu ehren ich gelangt völlig unverhofft
während eines stadtgangs, offen und ehrlich
das feindbild des mannes. Wie recht
er doch hatte, mich links von sich
zu placieren.

 

Die hier unterschiedenen Abschnitte sind in dem Textblock aus 20 Versen formal nicht markiert. Bei dem wenig spektakulären, fast nüchternen, lautmalerisch eingefärbten Titel „stadtgang“ vermutet der Leser zunächst kaum, mit einer unerhörten Begebenheit konfrontiert zu werden. Ein Gast, ein Zugereister, beschimpft den lyrischen Sprecher auf übelste Weise, nur weil er sich beim Fotografieren gestört fühlt. Dieser Vorfall ereignet sich auf dem Markt, einem öffentlichen Platz.

„stadtgang“ signalisiert, dass das lyrische Subjekt in Bewegung ist („eilends entweichend“ „lief“), während die „berufstouristen“ als „nicht gut zu fuß“ charakterisiert werden. Im Besonderen der gutbetuchte Bajuware (im „lodenlook“) „stand“. Dem lyrischen Sprecher merkt man an, dass ihn die Hektik nach dem Kulturstadtjahr 1999 aus Anlass des 250. Goethe-Geburtstages noch immer stört. Er eilt durch Weimar, um gleichermaßen den „berufstouristen“ wie den „stadtbilderklärern“ zu entkommen. Typisch für den Dichter und Prosaschriftsteller Kirsten ist, dass er eine Gegend aufnimmt, indem er zu Fuß geht, nicht aber eilt, wie bei diesem „stadtgang“ durch das ihm bestens vertraute Weimar.

In seinem Gedicht schlägt Kirsten einen ironischen, zum Teil auch sarkastischen Ton an. Mit der „audienz bei der Herzogin Anna Amalia“, die der Hektik und Oberflächlichkeit des Marktreibens entgegensteht, kann nur ein Besuch in der berühmten Bibliothek gemeint sein. „Audienz“ steht hier für eine ganz besondere Begegnung, für eine, die dem Ich eine wirkliche und tiefe Auseinandersetzung etwa mit der Goethezeit ermöglicht. Sie führt das Ich ins Offene, zu den wesentlichen Fragen, zugleich aber zu sich selbst.

Sein Gedicht schrieb Kirsten 2001, drei Jahre vor dem verheerenden Brand. Über Jahrzehnte arbeitete der Dichter auch als Verlagslektor. Er gilt als der gründlichste Leser dieser Bibliothek, als ein Mann mit enzyklopädischem Wissen. Der vormalige Leiter der Bibliothek, Michael Knoche, sagt: „Den literarischen Bestand kennt niemand so gut wie er. Seine Hinweise auf Lücken sind bei den Bibliothekaren gefürchtet wie geschätzt […] Kein Literaturprofessor kann ihm in Text- und Personenkenntnis das Wasser reichen. In der deutschen Lyrik hat er schlechthin alles im Blick […].“ Die Jenaer Universität hat den mit vielen Literaturpreisen geehrten Dichter 2003 zu ihrem Ehrendoktor ernannt.

Wer um diese Sachverhalte weiß, dem wird die in dem lyrischen Text geschilderte Beschimpfung „sau“ durch den Zugereisten, der den Einheimischen zudem gleich zweifach duzt, in ihrer Perfidität deutlich. Von daher ist nachvollziehbar, weshalb das lyrische Subjekt den „berufstouristen“ aus dem Süden so ablehnend charakterisiert: „gewaffnet“, „vernagelt“, „sein blickfeld, das sehr begrenzt war“.

Die Pointe des Gedichts besteht darin, dass das Ich dem wenig sympathischen Bajuwaren im letzten Satz zuzustimmen scheint: „wie recht / er doch hatte, mich links von sich / zu placieren.“  Die Anpöbelei, die Tatsache, dass der Erzählende dem „feindbild des mannes“ zu entsprechen schien, zwingt diesen erst, sich politisch zu positionieren. Er „placiert“ sich „links“, aber nur in Bezug zu Jenem, der ihn „haarscharf angepöbelt“ hat. Der Dichter, der während des politischen Umbruchs 1989 / 1990 in Weimar eine herausragende Rolle gespielt hatte, sah sich sonst nicht als „Linken“. Das Bestreben des Dichters, eine erlebte Situation in ihrer politischen Dimension scharf zu artikulieren, führt zu einem Text, der bekenntnishafte Sentenzen aufweist. Damit erlangt dieses Gedicht einen besonderen Platz im Werk des Landschaftsdichters Wulf Kirsten, womöglich einen am Rande.

Kirstens reimloses Gedicht, das auf den ersten Blick beiläufig erzählend daherzukommen scheint, ist in Wahrheit gekennzeichnet durch expressive Bündigkeit. Es weist eine Kunstsprache auf, die man auch an der von der Alltagsnorm abweichenden Anordnung der Satzglieder erkennen kann. Der Dichter bevorzugt eine unverbrauchte Sprache, indem er alte Schreibweisen („placiert“) und Sprachformen („gewaffnet“) wiederbelebt. „Zentnerwörter“ sind in seinem Text meist doppelhebige Neuschöpfungen: „berufstouristen“, „stadtbilderklärer“, „lodenlook“.

Michael Knoche, äußerte den Wunsch, Kirsten möge eines Tages ein Bibliotheksgedicht schreiben. Wird doch in dem Gedicht „stadtgang“ deutlich, welch herausragende Stellung eine „audienz bei der Herzogin Anna Amalia“ für den Dichter und Prosaiker Kirsten, diesen „Chronisten einer versunkenden Welt“, besaß …