Man liest die Nachricht und ist angewidert: 83 Prozent der Russen unterstützen Putin und seinen Krieg.
Das erinnert mich an einen alten Witz. Das sowjetische Amt für Statistik wird gefragt: Wie viele Meter ist ein Krokodil lang? Sie fragen zurück: Es kommt darauf an, ob es vom Kopf bis zum Schwanz oder vom Schwanz bis zum Kopf gemessen wird. Und ich füge noch hinzu: Es gibt ein russisches Sprichwort, das noch treffender ist: Der Fisch stinkt nicht vom Kopf, er verfault.
In einer Diktatur sind Umfragen sinnlos. Nicht nur weil dabei der Manipulation Tür und Tor geöffnet werden, sondern weil die Befragten entweder eingeschüchtert sind oder über den Krieg, den es gar nicht gibt, sznur Nachrichten des Staatsapparats konsumieren. Eigentlich handelt es sich im vorliegenden Fall um eine szErhebung vom Levada Center Moskau, dem einzigen vom russischen Staat unabhängigen Meinungsforschungsinstitut. In örtlichen Staatsmedien kann man hin und wieder von einem „kleinen Aufräumen“ durch eine Militäroperation auf einem für die meisten unermesslich weit entfernten Gebiet hören oder lesen.
Bemerkenswert ist die Zahl der befragten Menschen. Die erwähnte Zustimmung äußerten aus dem 145-Millionen-Volk nur 1632 Personen in 137 städtischen Siedlungen. Genauso, als hätte man von 10 Millionen Ungarn nur 112 befragt. Oder anders ausgedrückt: Aus einer russischen städtischen Ansiedlung haben im Durchschnitt nicht ganz zwölf Personen geantwortet.
Sie wurden auch noch in fünf gleichgroße Altersgruppen eingeteilt. Es stellte sich zum Beispiel heraus, dass 60 Prozent der 55-Jährigen und Älteren (die noch Erfahrungen aus der Sowjetzeit haben, doch die heutigen Tricks in Medien und im Internet weniger durchschauen) wegen der aktuellen Lage sehr, 30 Prozent weniger und vier Prozent aus dieser Gruppe nicht besorgt sind. Es sind demnach 13 Personen, die sich überhaupt keine Sorgen machen. Das ist zwar rechnerisch richtig, als Zahl ist es jedoch erschreckend unbedeutend. Und die ganze Welt beurteilt die Russen auf eben dieser Grundlage.
Langsam mag man im Westen nur noch Russen, die ihr Land verlassen haben. In mehreren EU-Ländern wird ihnen auch geholfen, vorausgesetzt, sie sind gegen Putins Krieg. Es ist eine Zumutung zuzusehen, wie sich das Land leert. Aber es ist verständlich: Wer gehen muss und gehen kann, der geht.
Ein jeder hat etwas zu befürchten, wenn er nicht bereit ist, zu kuschen oder im Untergrund zu leben. Wer aber geht, begibt sich in die Quarantäne der Emigration. Dort kann er zwar reden, aber aktiv etwas gegen das Regime tun, das kann er nicht. Er verteilt keine Flugblätter für den Frieden, übergießt die Rathauswand nicht mit blauer und gelber Farbe, bindet keine blau-gelben Bänder an Gartenzäune und geht nicht mit Friedenszeichen auf den Markt. Ja, solche Helden gibt es, doch mit welchem Recht kann man erwarten, dass dies in Russland massenhaft geschieht? Man ist naiv und hofft, dass sich kleine Aktionen summieren und schließlich zum Einsturz des ganzen Gebäudes führen. Die wahren Ursachen für den Kollaps eines Regimes stellen sich jedoch meist erst nachträglich in Form von Vermutungen heraus.
Bereits Anfang Mai landeten 16.000 Protestler, man kann sie auch Helden nennen, im Gefängnis und in Straflagern, das sind zehn Mal so viele wie an den genannten Umfragen teilgenommen haben. Nicht jeder, der in seiner Heimat bleibt, unterstützt den Krieg. Es scheint, als wollten am Kriegsgeschehen selbst die nicht aktiv teilnehmen, die den Krieg im Prinzip bejahen. Und diejenigen, die anderer Meinung sind, werden vielleicht nicht einmal gesehen. Sie zu retten ist sicher nicht möglich. Viele Menschen leben in Russland wie Geiseln im eigenen Land. Sie werden vom Regime plattgemacht.
Wer in Ungarn den Russen vorwirft, keinen aktiven Widerstand gegen Putin zu leisten, keinen Aufstand, Streik, Demonstrationen zu organisieren, sollte vorher sein eigenes Handeln prüfen: Was kann er in seinem eigenen Land tun – wo Notabene kein Krieg herrscht, Andersdenkende weder eingesperrt noch erschossen werden?
War er mit dem Ausgang der letzten ungarischen Wahlen zufrieden? Was hat er getan, um deren Ausgang zu beeinflussen? Welchen Einsatz für die von ihm gewünschten Veränderungen kann er jetzt vorweisen? Zu welchen Opfern ist er bereit? Und wenn er machtlos ist, warum ist er machtlos?
Dann könnte er vielleicht besser begreifen, was drüben in Russland passiert.
Prof. Dr Zsuzsa Hetényi leitet das Institut für Slawistik an der ELTE Universität Budapest. Sie übersetzte Werke von Babel, Brodsky, Bulgakow und Nabokow. Das Original erschien unter dem Titel „Orosz krokodil“ am 22. August 2022 in der einzigen noch freien ungarischen Tageszeitung Népszava. Der Text wurde uns vom Übersetzer Gabor Szasz übermittelt, der freundlicherweise die Nachnutzungsgenehmigung durch Autorin und Redaktion vermittelte.
Schlagwörter: Gabor Szasz, Krieg, Kriegsgegner, Meinungsumfragen, Russland, Zsuzsa Hetényi