Während die Taleban vor 2001 die Versorgung der Bevölkerung weitestgehend der UN und Nichtregierungsorganisationen überließen, sind heute immerhin Ansätze einer Wirtschaftspolitik erkennbar. Ihre Minister verhandeln mit Vertretern Washingtons und der Weltbank um die Freigabe der eingefrorenen afghanischen Staatsguthaben. Inzwischen wurde in der Schweiz ein Fonds eingerichtet, in den die USA einen Teil der eingefrorenen Gelder überweisen sollen, die über die UN humanitären Zwecken zugeleitet werden. Das ist aber bisher noch nicht geschehen, da die Taleban den al-Qaida-Anführer Aiman al-Sawaheri in Kabul beherbergten, was die USA als Bruch ihres Abkommens mit den Taleban vom Februar 2020 betrachten. Sawaheri wurde Ende Juli durch einen Drohnenschlag der USA getötet.
Mit dem deutlich gesteigerten Kohle-Export nach Pakistan, das von der weltweiten Brennstoffkrise hart getroffen wurde, ist den Taleban bei der Einnahmensteigerung aber ein kleiner Coup gelungen. Allerdings stagniert der Handel mit den anderen Nachbarn wie Iran und Zentralasien.
Dafür bekämpfen die Taleban im eigenen Land die Korruption wirksamer als die alte, westlich gestützte Regierung und erhöhten auch dadurch die Staatseinnahmen aus Steuern und Handel. Das Kriegsende erlaubt insgesamt wieder mehr Wirtschaftstätigkeit. Und sie lassen dem Privatsektor, der neben der agrarischen Subsistenzwirtschaft in allen kriegsbedingten Krisen der letzten 40 Jahre das Überleben der Bevölkerung sicherte, freien Raum. Kleinunternehmern erließen sie sogar Steuern. Allerdings fehlt es Unternehmern und Händlern an Kapital und damit oft an Rohstoffen.
Im Privatsektor dürfen auch Frauen weiterhin arbeiten. Denn der Ausschluss der Frauen aus der Arbeitssphäre ist keineswegs total. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) ging die Zahl der arbeitenden Frauen seit vorigem August zwar um 21 Prozent zurück, doch hätten damit noch immer vier von fünf der früher arbeitenden Frauen ein Einkommen – wenn auch die Löhne fallen (viele Unternehmer kommen nicht an Bargeld) und die Inflation zunimmt. Dem Privatsektor lassen die Taleban offenbar freie Hand, solange Frauen nicht mit Männern im gleichen Raum arbeiten. Die meisten Frauen sind laut ILO im Textilgewerbe beschäftigt. Viele arbeiten auch bei Privatbanken.
Den Taleban zufolge arbeiten sogar die meisten der zuvor bei Regierungsstellen beschäftigten 120.000 Frauen wieder, auch dort von den Männern getrennt. Westliche Journalisten bestätigen dies für technische Abteilungen etwa des Finanzministeriums. Allerdings ist unklar, ob die Taleban auch jene Frauen zählen, die sich nur einmal pro Woche an ihrem Arbeitsplatz zum Einschreiben melden müssen, um weiter ihr Gehalt zu bekommen, wie Schugufa, die in Herat bei der Stadt arbeitet, der taz erzählte.
Gleichzeitig wird den Taleban vorgeworfen, dass sie die Auswahl von Studienfächern für Studentinnen eingeschränkt haben. Sie kontern mit der Feststellung, für manche Fachrichtungen hätten sich nicht genügend junge Frauen gemeldet. Klar ist: Die vorangegangenen Einschränkungen haben sicherlich dazu geführt, dass weniger Mädchen studieren wollen (oder sich trauen) und auch Eltern aus Furcht ihre Bewegungs- und Wahlfreiheit einschränken.
Die Hälfte des Taleban-Budgets fließt laut dem Wirtschaftsmagazin The Economist allerdings in den Bereich Verteidigung, obwohl sich das Regime nur marginalen inneren und keinen äußeren Bedrohungen gegenübersieht. Die Talebanführung muss ihre Kämpfer weiterbezahlen, denn sie kann sie nicht demobilisieren, weil die schrumpfende Wirtschaft sie nicht absorbieren kann. Der Gesamtetat von umgerechnet 2,6 Milliarden US-Dollar ist schon mit einem Defizit von 500 Millionen belastet. Offenbar hoffen die Taleban, das Loch durch erhöhte humanitäre und Entwicklungsgelder sowie Steuerinnahmen zu stopfen.
Bisher dominiere in der Talebanführung „noch die Ideologie über Pragmatismus“, schreibt der afghanische Journalist Fazelminullah Qazizai. Oberhand haben die Ultrakonservativen um Hebatullah, wenn auch vielleicht nicht zahlenmäßig. Der pragmatischere Flügel um Vizeregierungschef Mulla Abdul Ghani „Baradar“ und die „Prinzlinge“ Seradschuddin Haqqani und Mulla Muhammad Yaqub wolle „Gott und dem Land“ dienen, wie der afghanische Medienunternehmer Saad Mohseni schrieb, Hebatullah und sein Kreis dagegen allein „Gott“. Haqqani ist der Sohn Dschalaluddin Haqqanis vom sogenannten Haqqani-Netzwerk, einer regionalen Taleban-Untergruppe, die für ihre engen Beziehungen zu Pakistans Geheimdienst ISI bekannt ist und die viele während des Krieges bis 2021 für die terroristische Avantgarde hielten; Yaqub ist Sohn des in der Bewegung fast heiliggesprochenen Taleban-Gründers Mulla Muhammad Omar. Als Innen- beziehungsweise Verteidigungsminister bekleiden sie Schlüsselpositionen und stehen für eine jüngere Generation von Taleban-Führern, die später wohl die Macht übernehmen wird.
Ob und wann die Führungsgruppe um Hebatullah begreifen wird, dass der Ausschluss von Frauen und Mädchen aus weiten Bereichen des öffentlichen Lebens mit der Welt des 21. Jahrhunderts nicht zu vereinbaren ist, bleibt unklar. Woher Ärztinnen und Lehrerinnen kommen sollen, wenn weiblicher Nachwuchs von den Universitäten ausbleibt, ist ihr Geheimnis. Ihre Mitglieder verweigern jeglichen Direktkontakt mit westlichen und sogar den meisten internationalen islamischen Akteuren. Allerdings sind sie weiter deutlich an einer internationalen Anerkennung und einer Aufhebung der Sanktionen interessiert. Mohseni geht davon aus, dass eine Machtübernahme der jüngeren Pragmatiker „wahrscheinlich evolutionär und nicht durch einen Coup“ erfolgen wird.
Trotzdem sitzen die Taleban ein Jahr nach ihrer neuerlichen Machtübernahme mangels einer organisierten Opposition auf absehbare Zeit fest im Sattel. Ähnlich wie alle Vorgängerregierungen sind sie freilich nicht in der Lage, das gesamte Territorium permanent zu besetzen und zu kontrollieren.
Die anhaltenden, wenn auch sporadischen und begrenzten Proteste von Frauen gefährden mangels unterstützender zivilgesellschaftlicher Strukturen deren Herrschaft jedoch nicht. Ebenso gilt das für den zersplitterten bewaffneten Widerstand in Teilen des Landesnordens, mit dem Zentrum im Pandschir- und Andarab-Tal und die Terrorangriffe des örtlichen Ablegers des Islamischen Staates (ISKP), denen eine breitere soziale Basis fehlt. Die bewaffneten Widerstandsgruppen sind wenig populär, da sie ähnliche terroristische Mittel einsetzen wie die Taleban während ihrer Aufstandsphase, auf Fraktionen zurückgehen, die Bestandteil des korrupten politischen Systems vor 2021 waren, und für ihren Ethnozentrismus bekannt sind. Ähnliches gilt für die im Exil entstehenden neuen Parteien.
Die Führung der wohl stärksten bewaffneten Gruppe, der Nationalen Widerstandsfront (NRF), befindet sich mit russischer Duldung in Tadschikistan, aber selbst Russland lässt keine Waffenlieferungen an sie zu. Auch darüber hinaus werden sie von keinem internationalen Akteur aktiv unterstützt. „Weder Russland noch China (oder die anderen zentralasiatischen Staaten) wollen bewaffnete Afghanen, die in Zentralasien an grenzüberschreitenden Kriegshandlungen teilnehmen”, schrieb der US-amerikanische Afghanistan-Kenner Barnett Rubin. „Sie wissen, wie solch eine Situation in den 1980er Jahren Pakistan destabilisiert hat.“
Im Land begrenzt vor allem die allgemeine Kriegsmüdigkeit das Mobilisierungspotenzial des Widerstands. Sie bewog die Bevölkerung in vielen Landesteilen dazu, sich mit der Taleban-Herrschaft zu arrangieren. Fehlende Koordination der Widerstandsgruppen erlaubte es den Taleban bisher stets, konzentriert Kämpfer gegen örtliche Rebellionen einzusetzen. Vor allem ISKP-Anschläge sorgen aber immer wieder für viele zivile Opfer, vor allem unter schiitischen Bevölkerungsgruppen wie den Hasara. Dieses Vorgehen grenzt auch nach Ansicht unabhängiger Beobachter an Völkermord.
Eine größere Gefahr stellen ethnische Spannungen dar. Nach der Verdrängung von ohnehin im nationalen Führungspersonal der Taleban unterrepräsentierten Nicht-Paschtunen wächst Unmut. Langfristig geht die größte Gefahr für das Taleban-Regime von der Wirtschafts- und insbesondere der drohenden zyklischen humanitären Krise aus, verstärkt durch die Auswirkungen der weltweiten Klimakrise auf die Ökologie Afghanistan.
Afghanen, die durch offenen Widerstand nicht ihr Leben riskieren wollen, bleiben zwei Optionen: das Land verlassen oder sich anpassen und etwas persönlichen Spielraum bewahren. So wie Schah Gul und ihre Freundinnen, die sich zwar verhüllen, aber nicht so, wie die Taleban es verlangen. Ihr Bruder in Bamian, so erzählte Schah Gul der taz, arbeitet inzwischen für die Taleban-Moralpolizei: „Zögernd, weil es keine anderen Jobs gibt.“
Was die in Deutschland oft dominierende Schleierdebatte betrifft, schrieb die aus Afghanistan stammende, in Deutschland lehrende Hochschullehrerin Jasamin Ulfat, der Verhüllungserlass sei zwar die harscheste Maßnahme gegen Frauen bisher, aber „die Schulbildung wegzunehmen und die Bewegungsfreiheit der Frauen einzuschränken ist weitaus schlimmer als ein Schleier. Ein Schleier ist nur sichtbarer als die anderen Einschränkungen.“
Mitarbeit: Sayeda Rahimi, Kabul. Die Namen der interviewten Frauen wurden zu ihrem Schutz verändert. Teil I erschien im Blättchen 23/2022.
Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, Pakistan, Taleban, Thomas Ruttig, Wirtschaftskrise