Die kriegspropagandistischen Mitteilungen vom Ukraine-Krieg sind zurzeit sehr widersprüchlich. Einerseits werden jeden Tag Siegesmeldungen – bisher allerdings ohne die Siegesfanfaren von Liszt Ferenc – lanciert: Putin gehen die Soldaten, die Panzer oder die Raketen aus, oder alle drei. Die Russen würden nur meterweise vorrücken, wo sie denn in der Offensive sind, die Ukrainer dagegen Dutzende Meter pro Tag. Deutsche Abwehrsysteme würden russische Raketen oder Drohnen abschießen. Deutsche Panzer müssten nachrücken. Die „Rache für Stalingrad“ scheint einigen Kriegskommentatoren die Feder zu leiten.
Andererseits wird geklagt, Putin ließe das Elektro-, Wasser- und Infrastrukturnetz der Ukraine zerstören, es drohe dort ein Winter ohne Strom, Wasser und Fernheizung. Das hätte eine weitere Fluchtwelle von Millionen Ukrainerinnen und ihren Kindern zur Folge. Darauf müssten sich die deutschen Kommunen und die einheimische Bevölkerung einrichten. Dass eine wachsende Zahl der Menschen diesen Krieg nicht als den ihren ansieht, wird verschwiegen oder als eine rechte bzw. als Pro-Putin-Position verschrien. Genüsslich wird berichtet, dass Zehntausende russischer Männer das Land verlassen, um nicht zum Militärdienst herangezogen zu werden. In Bezug auf die Ukraine wird zwar erwähnt, dass die die Männer zwischen 18 und 60 Jahren Ausreiseverbot haben, die hiesige Kriegspropaganda tut jedoch so, als würden alle ukrainischen Männer nach Herzenslust den Heldentod sterben wollen. Dass dort ebenfalls Zehntausende das Land illegal verlassen haben, um einem solchen Schicksal zu entgehen, wird in den Mainstream-Medien in aller Regel verschwiegen. Die Würdigung der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer sollte stets die beider Seiten einschließen.
Der selbsternannte Kreml-Astrologe Alexander Dubowy hat jüngst (Berliner Zeitung, 29./30.10.2022) Michailo Podoljak interviewt. Der ist seit längerem als besonderer Scharfmacher bekannt und wird meist als „Berater des ukrainischen Präsidenten“ Wolodimir Selenskij angepriesen. Ist in der Tat jedoch eine Nummer kleiner. Im Kleingedruckten steht, dass er die Dienststellung eines „Beraters von Andrij Jermak“ innehat, der wiederum Leiter des Präsidialamtes der Ukraine ist. Podoljak ist also ein indirekter Berater des Präsidenten, so wie ein Mitarbeiter des Chefs des Kanzleramts „Berater des Bundeskanzlers“ ist.
Die Selbsterhöhung entspricht dem gespreizten politischen Anspruch. Zunächst betont Podoljak drei Punkte: Erstens dürfe der Krieg nicht durch „einen vorübergehenden Waffenstillstand oder eine neue Kontaktlinie“ „angemessen beendet werden“, das könne nur eine vollständige „Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine von 1991“ sein. Also einschließlich der Rückeroberung der Krim. Zweitens bleibe der Umfang der Militärhilfen des Westens entscheidend. Dazu bedürfe es drittens der Einsicht des Westens, „dass Russland diesen Krieg nicht nur verlieren könnte, sondern verlieren muss“. Es folgt das Narrativ, der Krieg Russlands richte sich nicht nur gegen die Ukraine, „sondern gegen den Westen als Ganzes, vor allem gegen Europa“. Als Gegenleistung bietet Podoljak den Regimewechsel in Russland an: „nur eine militärische Niederlage Russlands wird den Transformationsprozess innerhalb der Russischen Föderation in Gang setzen und damit auch den erpressischen Druck Russlands reduzieren“. Es sei „auch psychologisch äußerst wichtig, dass Russland diesen Krieg verliert“.
Zum eigenen, nationalistischen Selbstverständnis gehört die Behauptung: „Aus historischer Perspektive wissen wir, dass die Ukraine schon immer unabhängig werden wollte, sowohl in der zaristischen als auch in der sowjetischen Epoche. Dies gilt vor allem für die West- und Zentralukraine. Wir sind nicht Russland.“ Hier nimmt Podoljak die Geschichte der Westukraine, die vor 1918 zu Polen und zu Österreich gehörte, für das Ganze, die er mit den nationalistischen Bestrebungen in der Zentralukraine vor 1914 in eins setzt, aber die Tatsache, dass die Krim und der Donbass immer zu Russland gehörten, wird völlig negiert. Insofern ist der hier artikulierte ukrainische Nationalismus nicht weniger anmaßend und einvernehmend, wie der Russlands.
Am Ende erklärt Podoljak freundlicherweise, die Ukraine werde in diesem Krieg nicht über die international anerkannten Grenzen von 1991 hinausgehen. So werde das Land dann attraktiv für westliche Investitionen sein und integraler Bestandteil der Europäischen Union, wirtschaftlich und politisch. Dann werde die Ukraine auch „integraler Bestandteil der Nato werden“. Da die ukrainische Armee – nach dem erwarteten Sieg – wie „keine westliche Armee Erfahrungen in einem großen Krieg, einem systemischen Krieg mit großer Intensität hat“, werde „die ukrainische Armee ein äußerst wichtiges Element des gesamteuropäischen Sicherheitssystems bilden“. Was hier so genannt wird, ist natürlich kein gesamteuropäisches Sicherheitssystem im Sinne der KSZE oder der OSZE, sondern das NATO-System im Sinne der von den USA seit 1990 verfolgten Strategie von deren Osterweiterung unter Ausschluss und Zurückdrängung Russlands. Nun mit der Ukraine als Militärkolonie der USA und der NATO im Osten.
Den historischen Lohn für die Ukraine stellt sich Podoljak so vor: „Die Ukraine wird Russland seinen wahren Status wiedergeben. Nämlich den Status eines aus wirtschaftlicher Sicht wenig bedeutenden rohstoffexportierenden Staates; eines Staates mit einer sehr schwachen Armee und einem rückständigen militärisch-industriellen Komplex. Damit wird die Fähigkeit Russlands, die europäische Politik zu beeinflussen, nachhaltig reduziert.“ Den bisherigen Platz Russlands in Europa und der Welt wolle die Ukraine einnehmen und „eine wesentlich wichtigere Rolle spielen, nicht nur in Osteuropa, sondern in ganz Europa“.
Podoljak schwadroniert hier von einem Zustand Russlands, wie Anfang des 17. Jahrhunderts in der „Zeit der Wirren“, nachdem polnische Truppen 1605 Moskau erobert hatten. Es gibt alldings zwei Einwände gegen einen solchen neu-westlichen Größenwahn: Erstens hat sich Russland damals in kurzer Zeit wieder stabilisiert und unter den Romanows jahrhundertelang als Großmacht weiter entwickelt. Und zweitens gab es damals keine Atomwaffen. „Nukleare Großmächte kapitulieren nicht“, hatte die Friedensforscherin Nicole Deitelhoff der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gerade wieder ausdrücklich bestätigt.
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