Etappe drei unserer Bodenseeumrundung führt zum uns zum Rheinfall bei Schaffhausen. Noch am Vorabend haben wir entschieden, diesen Tag unsportlich anzugehen und uns die 19 Prozent Steigung mit dem Rad, und sei’s auch elektrisch, zu ersparen, sondern uns stattdessen dem in der Bodenseeregion vorzüglich ausgebauten ÖPNV anzuvertrauen. Also von Horn mit dem Bus nach Stein am Rhein, dort einmal quer durch die Stadt und über den namengebenden Fluss zum Bahnhof und dann mit dem halbstündig fahrenden Zug zu Europas größtem Wasserfall. Der ist vom Ankunftsplatz in Schaffhausen aus in einem angenehmen, knapp vier Kilometer langen Spaziergang direkt am Rhein entlang zu erreichen. Dabei passiert man im Ort eine Flussbadestelle, die jetzt, Mitte September, kostenfrei geöffnet ist und für Eisbader schon mal etwas zum Vorglühen.
Der Wasserfall selbst gilt der Durchflussmenge nach als mächtigster Europas und den Schweizern, also mindestens denen in der Region, als „die meistbesuchte und beliebteste Touristen-Attraktion“ ihres Landes: auf 150 Meter Breite stürzt der Fluss 23 Meter in die Tiefe, und wenn man sich mit einem der Besucherboote bis dicht an die Abbruchkante schippern lässt, ist das schon ein Schauspiel. – Die Rückfahrt streift Gaienhofen. Der Ort, nächstgelegen zu unserem Übernachtungsdomizil, hat architektonisch nichts zu bieten, doch zumindest zwei prominente Namen auf seiner Habenseite. Ab 1904 lebte Hermann Hesse für acht Jahre in dieser Idylle, um der Hektik des Stadtlebens zu entfliehen, und ab 1936 nahm Otto Dix seinen Wohnsitz am Ort und blieb bis zu seinem Tode 1969. Hesse-Haus und Dix-Haus laden zur Besichtigung.
Am nächsten Tag – Etappe vier über rund 50 Kilometer – geht es über Radolfzell und Allensbach – Standort des 1947 von Elisabeth Noelle-Neumann gegründeten Instituts für Demoskopie, deren mathematisch-methodische Kaffeesatzdeuterei immer dann besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, wenn ihre Prognosen mal wieder komplett danebengelegen haben – nach Konstanz. Auf dem Wege lohnt ein Abstecher in Gestalt einer Rundfahrt über die Reichenau, die mit etwa vier Quadratkilometern größte Bodenseeinsel, die ob ihres milden Klimas ein ertragreiches Anbaugebiet für Obst, Gemüse und Wein ist. Bis zu drei Ernten jährlich. Sehenswert auch das Kloster mit seinen drei romanischen Kirchen, dessen Geschichte bis ins achte Jahrhundert zurückreicht und dem die Insel ihre Adelung zum Weltkulturerbe der UNESCO verdankt.
Konstanz, die heimliche Hauptstadt der Bodenseeregion, bietet innerorts ein mediterran quirliges Flair, woran die junge Universität ihren Anteil haben dürfte. Studenten bringen Leben in die Bude. Gesiedelt haben hier im Übrigen schon die Römer, wovon die Reste eines spätantiken Kastells zeugen. Das Konstanzer Münster war einst Bischofskathedrale und ist neben Zunft-und Patrizierhäusern Zeugnis von Mittelalter und Renaissance. Aus nachfolgenden Jahrhunderten sind zusammenhängende Komplexe von Gründerzeit- und Jugendstilensembles erhalten. Im Unterschied zum schweizerischen Stein am Rhein, das 1945 aus Versehen von anglo-amerikanischen Bombern angegriffen wurde, blieb das deutsche Konstanz – unmittelbar angrenzend an das schweizerische Kreuzungen – dank eines Tricks unversehrt: Die Stadt wurde nicht verdunkelt und wirkte so von oben wie zum neutralen Nachbarland gehörig.
Nicht unerwähnt bleiben soll eine folgenreiche Episode aus dem sakralen Erbe der Stadt: das Konzil von 1414 bis 1418. Es beendete einerseits das damalige sogenannte große Schisma der katholischen Kirche (1378 bis 1417) mit bis zu drei gleichzeitigen, verfeindeten Päpsten. Schon ziemlich zu Beginn dieser katholischen Zusammenkunft und als direkter Ausfluss des Bestrebens, die Reinheit und die Einheit der Lehre wiederherzustellen, wurde Jan Hus, der tschechische Reformator und zeitweilige Rektor der Prager Karlsuniversität, als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt – am „Vormittag des 6. Juli 1415 […] in feierlicher Vollversammlung des Konzils“, wie es bei Wikipedia heißt. Zwar verfügte Hus über einen königlichen Schutzbrief, der ihm persönliche Unversehrtheit garantieren sollte, doch die Kirchenoberen erklärten den Konzilsort für exterritorial und damit vom Geltungsbereich des Schutzbriefes ausgenommen. Dieser katholische Terrorakt hatte Spätfolgen in Gestalt der blutigen Hussiten-Kriege, die mit dem ersten Prager Fenstersturz vom 30. Juli 1419 ihren Anfang nahmen und sich bis 1436 hinzogen.
Teil I dieses Beitrages ist im Blättchen 21/2022 erschienen.
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