Unsere Tour am Übergang vom Sommer in den Herbst führte uns einmal rund um den Bodensee. Um die 350 Kilometer im Fahrradsattel, inklusive eines Abstechers ins Hinterland, zum Rheinfall bei Schaffhausen. Das ist der Plan.
Den gut ausgebauten Bodenseeradweg, über weite Strecken stets in Sichtweite des Wassers, frequentiert alljährlich eine knappe Viertelmillion Pedaljünger. Um aber, was uns anbetrifft, gar nicht erst den Eindruck besonderen sportlichen Ehrgeizes aufkommen zu lassen – bei unseren Drahteseln handelte es sich um Pedelecs, weshalb die physische Herausforderung sich in Grenzen hielt und die Fortbewegungsart mit Genussradeln ziemlich treffend beschrieben ist.
Start- und Zielort war das österreichische Bregenz, in dem Mitte September von einem hohen Touristenaufkommen keine Rede mehr sein konnte. Doch dergleichen brauchen die Einheimischen offenbar auch gar nicht, um sich in einer Nacht vom Freitag auf den Samstag um den Schlaf zu bringen. Unser Übernachtungshotel war zentral gelegen, und der feucht-fröhliche Lärm umliegender Straßenrestaurants drang bis weit nach Mitternacht durch unser zwecks notweniger Zirkulation geöffnetes Fenster.
Etappe eins führte uns am nächsten Tag über eine Distanz von 40 Kilometern ins schweizerische Arbon. Entlang der Strecke, auf einer großen Wiese, die im trockenen Sommer augenscheinlich keinen Schaden genommen hat – fünf Weißstörche. Offenbar ohne Ambition, in wärmeren Gefilden zu überwintern. Es sollten nicht die einzigen bleiben, denen wir begegneten. Und das Klima am Bodensee gestattet ja auch allenthalben Feigenbäumen, Früchte anzusetzen, und immer Mal Palmen, in den Himmel zu wachsen. Von den üppig befrüchteten Obst-, vor allem Apfelplantagen ganz abgesehen, die uns vom ersten Tage an praktisch rund um den See begleiteten und die, in größeren Abständen zu Siedlungen unumzäunt, zum gelegentlichen Mundraub verführten. – In Altenrhein grüßt uns, die wir aus Berlin kommen, von einem Dach einer jener Buddy Bären, die vor Jahren zahlreich im Weichbild der deutschen Hauptstadt vertreten waren. Der hier ist jedoch bekennender Lokalpatriot: von Kopf bis Fuß in Schweizer Rot und mit leuchtend weißem Schweizer Kreuz. – Zwischenstopp in Rorschach. Dort hat Schraubenmilliardär Würth eines seiner privaten Kunstmuseen errichtet. Er ist mit über 18.500 Exponaten ja einer der größten Sammler weltweit, behandelt seine Kunst, soweit man weiß, als Betriebsvermögen, lädt hier aber zumindest mit freiem Eintritt zum Besuch. Gezeigt wird Modernes, reichlich Abstraktes. Hohlbeins „Madonna des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen“, von Würth vor Jahren für mutmaßlich 50 Millionen Euro gekauft, hätte uns mehr zu sagen gehabt. – Zu Arbon selbst teilte unser Reiseführer „Der Bodensee-Radweg“ mit: „In jüngster Zeit erfolgt eine vermehrte Zuwanderung von Muslimen, hauptsächlich aus Balkanländern, allen voran aus dem Kosovo.“ Das ist uns bei unserem Kurzaufenthalt nicht aufgefallen, allerdings ist Arbon andererseits ein ganz spezieller Charme eigen, der womöglich manchen den Daueraufenthalt verleidet: Am Montagmorgen, um viertelsechs, begann die Glocke der unserem Hotel benachbarten Kirche unüberhörbar, erst die Viertel- und dann die ganzen Stunden zu schlagen. Sofort, als dies um sechs verklungen war, setzte an anderer Stelle eine weit lautere Glocke ein und läutete Sturm, bis auch der letzte Zugereiste aus dem Schlaf gedonnert war. Wir haben den Ort nach dem Frühstück ohne Wehmut wieder verlassen.
Etappe zwei sollte uns planmäßig über knapp 80 Kilometer nach Horn hinter Gaienhofen führen, endete jedoch schon nach wenigen Kilometern abrupt: kurze Unachtsamkeit, Notbremsung mit ebensolchem Abstieg, ohne Sturz zwar, aber … danach blockierte beim einen der Pedelecs das Vorderrad. Schieben ging noch, doch an fahren war nicht mehr zu denken. Da hatten wir von einer Eigentümlichkeit der Schweiz am Bodensee bereits Kenntnis erlangt: Montags haben dort nicht nur die Museen zu, sondern nahezu – alles. Doch genau für solche Fälle hatte man uns beim Erwerb der Pedelecs zu einer recht teuren europaweiten Mobilitätsversicherung geraten, und wir waren dem Rat gefolgt. Also einfach Anruf und nach knapp 20 Minuten schon die finale Auskunft: In unserem Bereich des Bodensees sei Hilfe leider nicht möglich. Auch zur Unterstützung bei der Suche nach einer erreichbaren Fahrradwerkstatt sah sich der Call-Agent außerstande. Letzteres übernahm dann freundlicherweise Donau Touristik, das österreichische Reiseunternehmen, bei dem wir gebucht hatten und das wir nach dem Flop mit der Versicherung kontaktierten. Weiterer Fortgang: Fahrrad zur nächsten Bahnstation schieben, mit der Bahn nach Kreuzlingen (Schweiz), Rad nach Konstanz schieben, dort durch die halbe Stadt bis zum Fahrradservice. Inzwischen war die Mittagszeit heran, da machen die Fahrradreparateure auch auf deutscher Seite erst mal bis 14:30 Uhr Siesta. Doch schon 14:32 Uhr war das Pedelec wieder völlig in Ordnung. Nach einem kurzen Griff ans Vorderrad hatte der Fachmann zwei Schrauben am Schutzblech gelöst, die Blockierung beseitigt, die Schrauben wieder angezogen. Fertig. Kosten: keine. Hätte man auch selber machen können? Nee, erfordert einen speziellen Miniaturschlüssel, den es beim Verkaufspreis von lediglich knapp 4000 Euro fürs Pedelec natürlich nicht auch noch dazu gibt. Der wurde nun vorsichtshalber erworben (18 Euro), und dann war’s wie immer in solchen Fällen: bis Ende der Tour passierte nichts mehr. – Zurück auf der Strecke und munter in die Pedale getreten erreichten wir über Ermatingen (Exilort von Hortense de Beauharnais, Napoleons Stief- und Adoptivtochter, deren Sohn, der später als Napoleon III. auf den französischen Thron gelangte, dort aufwuchs) als Zwischenziel schließlich das Bodenseekleinod schlechthin – Stein am Rhein. Ein zwar nur 3200-Seelen-Örtchen, doch mit einem so unübertroffen pittoresken Altstadtensemble rund um den Markt, dass man sich beim Streifen durch die Gassen nicht wunderte, tauchte man hinter der nächsten Biegung in eine Szene aus einem Mantel-und-Degen-Film aus der eigenen Jugend ein (vielleicht aus „Cartouche, der Bandit“ mit Jean-Paul Belmondo). – Die letzten Kilometer zum Tagesquartier in Horn bescherten uns anschließend eine anstrengende Berg-und-Tal-Fahrt; der heftigste Abschnitt wies über eine längere Strecke ein Gefälle von 19 Prozent auf. Die würden wir morgen auf dem Weg über Stein am Rhein nach Schaffhausen gleich zu Beginn der Tour als Anstieg zu bewältigen haben. Keine wirklich motivierende Aussicht! An diesem Abend sanken wir fix und fertig aus den Sätteln zu einem labenden Hefeweizen und wenig später direkt auf die Matte.
Wird fortgesetzt.
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