Mal wieder eine genealogische Internetrecherche zur Familie von Kurt Tucholsky. Aber was ist das? Auf einer amerikanischen Seite bietet jemand historische Kabinettfotos aus einer Haushaltsauflösung an – und da heißt es an einer Stelle tatsächlich „Tucholsky“. Zügig wird Kontakt zur Verkäuferin aufgenommen, und die ist so nett und schickt schon mal vorab einen Scan der Vorder- und Rückseite des Fotos, das sie selbst im amerikanischen St. Louis gekauft hat. Und dann glaubt man es kaum, aber es ist eindeutig, weil jemand auf der Rückseite des Fotos nicht nur die Namen der beiden Damen, „Flora Tucholsky“ und „Berta Tucholsky“, sondern auch den ihres Bruders „Alex“ aufgeschrieben hatte, und das war nun mal der Vater von Kurt. Volltreffer!
Die beiden freundlichen Damen auf dem Foto sind so nach über 120 Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt, nachdem die Autorin einen moderaten Geldbetrag an die ahnungslose Verkäuferin überwiesen hatte. Schon bald hält sie stolz das wunderschöne Foto in den Händen. Dennoch Ratlosigkeit, was bitte schön haben die beiden denn um 1890 in Stanislawow (Stanislau) in Ostgalizien gemacht, zu einer Zeit, als die Gegend noch zu Österreich-Ungarn gehörte? Für wen haben sie sich damals im örtlichen Fotostudio von Leo Rosenbach ablichten lassen? Und wie kam das Foto dann von dort nach St. Louis in Amerika?
Einziger Hinweis, eine alte Hotel-Gästeliste aus dem Jahr 1891 – damals wurden solche Listen regelmäßig in bestimmten Zeitungen veröffentlicht – und da hieß es nicht minder rätselhaft: „F. Tucholsky samt Töchter“ aus Stanislau. Aber wer war nun dieser „F. Tucholsky“, der mit seinen Kindern nobel im Budapester Grand Hotel Hungaria abgestiegen war? Diese Spur verlief im Sande. Weitere Recherchen konnten dann zwar nicht alle, aber doch einige Fragen beantworten.
Was mag das für ein Tag gewesen sein, an dem die beiden sich in Richtung Fotostudio aufmachten? Für diesen besonderen Anlass hatten sie ihre besten Kleider angezogen. Flora blickt nicht in die Kamera, sondern zur Seite, Bertas Blick ist offen, direkt, aber auch melancholisch, wie man es auch von Fotos ihres berühmten Neffen Kurt kennt.
Die bis zu ihrem Tod unverheirateten Schwestern werden das Foto an ihre amerikanischen Verwandten in St. Louis geschickt oder es ihnen 1899 vielleicht sogar persönlich überreicht haben. Es war nämlich Rose Tuholske aus St. Louis, die vor der Verheiratung mit dem Berliner Arzt Ernst Jonas mit ihrem Vater auf eine ausgedehnte Europareise gegangen war und dann auch die Berliner Verwandtschaft besuchte.
Später beschrieb sie diese Episode kurz in einem Brief an Mary Tucholsky, der zweiten Ehefrau Kurts: „The Cousin from AMERIKKA“, soll der damals neunjährige Kurt demnach bei ihrer ersten Begegnung ausgerufen haben. Der genaue Verwandtschaftsgrad lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, mehrmals hieß es jedoch in alten amerikanischen Passagierlisten „distant cousins“, wenn es um die Beziehung der deutschen und amerikanischen Familienzweige ging, so steht es in einem Band der Kurt-Tucholsky-Gesamtausgabe.
Und so gab es auch Kurts Bruder Fritz bei seiner Flucht nach Amerika an, als er als Jude seine deutsche Heimat für immer verlassen musste. Immerhin hatte ihm der unbekannte gemeinsame Vorfahre das Affidavit beschert, so hatte dessen Nachfahrin Rose Tuholske für Fritz Tucholsky gebürgt, was Voraussetzung für eine Einreise war. Von seinem neuen Leben hatte Fritz nicht viel, 1936 kam er bei einem Autounfall ums Leben.
Eindeutig steht nach den Recherchen vor allem auf der (kostenpflichtigen) Seite ancestry.de aber auch fest: Hermann Tuholske war der Sohn des 1802 in Zempelburg im ehemaligen Westpreußen geborenen Lehrers Neumann Tucholsky, der 1868 nach St. Louis (Missouri) auswanderte und erst viele Jahre nach seiner Einbürgerung seinen Namen in Tuholske änderte. Dieser Familienzweig muss also mit dem in Obersitzko im Raum Posen, aus dem die väterliche Seite der Familie des Schriftstellers stammte, verwandt gewesen sein.
Flora und Berta wiederum waren die in Greifswald geborenen Schwestern von Alexander (Alex) Tucholsky, dem Vater der Geschwister Ellen, Fritz und Kurt. Und Alex, der als Handelsmann mehrmals umzog, hatte dann seine 1869 in Posen geborene Cousine Doris Tucholski geheiratet, während Flora und Berta sich für ein eigenständiges Leben ohne Ehemann entschieden.
Die 1864 geborene Flora bestritt ihren Lebensunterhalt als Privatlehrerin, und das mit Anklängen an die pazifistische Grundeinstellung ihres berühmten Neffen. Unter anderem spendete sie Geld für die Österreichische Gesellschaft für Friedensfreunde, für die stets der Leitsatz „Die Waffen nieder!“ galt. Aber auch die entfernte Cousine unbekannten Grades, Rose Tuholske, wirkte Zeit ihres Lebens in karitativen Organisationen und Friedensorganisationen. Flora starb schließlich vorzeitig am 20. August 1929 in Berlin an einer Fischvergiftung.
„Ich hatte sie sehr gern – sie waren so grundanständig“, erinnerte sich Kurt seiner Lieblingstanten. Auch die 1859 geborene Berta war Privatlehrerin, und gab ihrem Neffen in dieser Funktion Nachhilfeunterricht. Aber sie arbeitete auch als Übersetzerin und schrieb sporadisch Zeitungsartikel, zum Beispiel für das Neue Wiener Journal oder den Pester Lloyd, darunter auch einen satirisch angehauchten Beitrag namens „Ein Amerikaner über Budapest“. Um 1898 lebte sie in Wien, am 13. März dieses Jahres ließ sie sich in der Lutherischen Stadtkirche taufen. Untergebracht war sie im Städtischen Lehrerinnenheim in der Wipplingerstraße 8.
Als kultivierte Frau mit großem Interesse an Literatur war ihr Vorbild Samuel Langhorne Clemens, der als Mark Twain in die Literaturgeschichte einging. Sogar Briefkontakt hatten sie, weil Berta nämlich den großen Wunsch hegte, seine Werke übersetzen zu dürfen, wozu es aber aus unbekannten Gründen doch nicht kam. Da versprach sie fast schwärmerisch, einen (nicht mehr existenten) Brief des Schriftstellers „zur Erinnerung an einen großen Schriftsteller und guten Menschen“ für immer „als großen Schatz“ aufzubewahren.
Große Faszination übten auch die Schwestern Brontë aus dem abgelegenen und düsteren nordenglischen Yorkshire auf Berta aus. 1927 erschien ihre Übersetzung von Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“, den Charlotte unter ihrem Pseudonym Currer Bell veröffentlicht hatte.
So gern Kurt Tucholsky seine Tanten auch hatte, mit „der Familie“ stand er auf Kriegsfuß. Denn der allwissenden Verwandtschaft kann man nicht aus dem Weg gehen und schon gar nicht in Berlin, wo sie eine fast lückenlose Bewachung der geplagten Kreatur namens Kurt zuließ: „Die Familie umschließt ihn wie ein Käfig, diese Brutwärme der Liebe, die das gehegte Wesen zu Tode drückt“, schrieb er entnervt in einem seiner Briefe.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Berta wieder nach Berlin in den von ihrem Neffen so viel geschmähten „Schoß der Familie“ zurückgekehrt. Doch er kokettierte in seinen Briefen auch allzu gern mit seinen ständig übel nehmenden Tanten, die zudem mit ihrem Sofa zu verwachsen schienen. Es war wohl eher das unerreichbare Konzept einer heilen Familie, das Tucholsky ganz bewusst demontierte.
Einigen Familienmitgliedern war er nämlich herzlich zugetan, ganz besonders hatte er an seinem geliebten Vater Alex gehangen. Doch der starb bereits 1905 im Sanatorium von Schlachtensee qualvoll an den Folgen einer Syphilis-Erkrankung. Das Verhältnis zur Mutter war dagegen immer angespannt, liest man auch aus vielen Briefen heraus.
Vor allem Tante Berta gehörte zu Kurts erklärten Lieblingen. Noch kurz vor ihrer Deportation nach Theresienstadt dachte Tante Berta voller Wehmut und Bedauern auch an ihn, was man dem reichhaltigen Quellenmaterial zur Familie Tucholsky im Literaturarchiv Marbach entnehmen kann: „Armer Junge! Nur seine glänzende Begabung, seine schlimme Kindheit und Jungenzeit, ohne Mutterliebe, was das heißt! Ohne Vaterschutz u. Leitung“. Per Gesetz vom 21. November 1938 wurde auch Berta zu einer „Judenvermögensabgabe“ gezwungen, die „Sühneleistungen der Juden“. Eine nicht unerhebliche Summe war durch sie zu zahlen, weil sie die Tochter jüdischer Eltern war. Ihre evangelische Taufe war für die Nationalsozialisten nicht relevant.
Doch dann kommt es zum Äußersten. Im August 1942 erhält die mittlerweile 83-Jährige die Aufforderung, sich für einen Transport nach Theresienstadt bereitzuhalten. Herzprobleme und rheumatische Beschwerden machen ihr zu schaffen. Und in diesem Zustand soll sie innerhalb kürzester Zeit zwei Koffer für den Abtransport ins Ungewisse packen.
Gerüchte gehen um, dort würden die alten Menschen in einem Musterghetto ihr weiteres Dasein fristen. Mary, die längst von Kurt geschieden ist, hilft ihr dabei, die Koffer zu packen. Berta ahnt, dass sie Berlin für immer verlassen wird. Hastig versucht sie noch, ihre persönliche Habe auf einer Liste zu inventarisieren, ihren Besitz zu verteilen.
Man spürt förmlich die Resignation und die Verzweiflung zwischen den nüchternen Beschreibungen der letzten Habseligkeiten, die in diesem Leben keinerlei Bedeutung mehr haben. Dann verabschiedet sie sich am 13. August für immer: „Leben Sie wohl, Ihre Berta Tucholsky“, „Ich kann nicht mehr, habe viel wahrscheinlich vergessen. Auf Wiedersehen. Dank für Alles.“ Bedauert dann noch das frühe Ende der Ehe von Kurt und Mary: „Schade, dass Alles so kam, schon das viel frühere.“
Vier Tage später wird sie nach Theresienstadt deportiert, am 27. August 1942 ist sie dort ermordet worden, als Todesursache wird „Erschöpfung der Herzkraft“ vorgetäuscht. Am 7. Mai 1943 wird dort auch Kurt Tucholskys Mutter, Doris, ermordet. Ihr Grab auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee ist daher leer und dient als Gedenkstätte und Mahnung. Ein letzter grausamer Hohn, der Propagandaaufdruck neben dem Datumsstempel auf der Postkarte von Berta an Mary: „Erst siegen – dann reisen!“
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