25. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Exil“ – Berliner Ensemble / „Drei Schwestern“ – Maxim Gorki Theater Studio / „Das Halsband“ – Renaissance Theater.

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1. BE: Emigranten-Elend unterm Eiffelturm 

Schon wieder ein Roman, der zum Theaterstück umgebaut wurde! Aus den 900 Druckseiten des Romans „Exil“ von Lion Feuchtwanger (1940) filterten Regisseur Luk Perceval und Dramaturgin Sibylle Baschung 60 Seiten Skript. Das ist praktisch für faule Leser, denen eine vornehmlich durch Monologe getragene Kurzfassung des Romangeschehens mit seinen vielen konfliktbeladenen Figuren serviert wird.

Die Handlung spielt Ende der 1930er Jahre im Nazi-besetzten Paris, wo ums Überleben ringende, aber auch im sehr verschiedenen Widerstandskampf zerstrittene Exilanten auf gefährliche Art zusammenprallen mit der mörderischen Besatzungsmacht. Im Mittelpunkt stehen der aus München kommende Komponist Sepp Trautwein (Oliver Kraushaar) und Erich Wiesener (Marc Oliver Schulze), der Ex-Republikaner und jetzige berühmte Paris-Korrespondent einer bedeutenden „Reichs“-Zeitung aus dem Hause Goebbels.

Eine historisch-politisch wie menschlich-psychologisch breit und vielschichtig angelegte Gemengelage im Künstler- und Intellektuellen-Milieu, die in ihrer rigorosen Eindampfung eher in Umrissen erlebbar wird. Diesmal als an der Rampe organisiertes, unaufgeregtes Redetheater. Damit das nicht allzu unaufgeregt daherkommt, baute Bühnenbildnerin Annette Kurz allein aus Stühlen einen spektakulären Eiffelturm in den Bühnenhintergrund (Wartesaalsymbolik), unter dem die Regie einen akrobatisch-ballettösen Bewegungs-Chor arrangierte, der emsig durch Licht- und Nebeleffekte gestützte Stimmungsbilder malt.

Doch die immense Dynamik der Ereignisse (Flucht, Terror, Geld- und Obdachsorgen), die Dramatik der Konflikte (Karrierismus und Opportunismus, Verantwortung, Verrat und Lüge, Leidenschaften, Liebe), die bleiben weitgehend ungespielt. – Große Ausnahme in kleiner Rolle: Pauline Knof als Ehefrau Trautweins, die Angst, Demütigung und Existenznot in den Selbstmord treiben.

Ansonsten: Verflachung. Trotz des vielstimmigen, prominenten Ensembles: meist doch nur Hergesagtes. Ein Büchlein mit groben Skizzen aus schrecklicher Zeit. Das Publikum heute wird sich selbst seinen Reim drauf machen.

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2. Gorki: Grüne Männchen äffen Schwestern 

Anno 1979 war im Gorki der ganz große Premierenauflauf: Thomas Langhoff, Superstar der DDR-Szene, inszenierte die Premiere von Tschechows „Drei Schwestern“, das Stück (der Stunde) über die quälende Sehnsucht nach einem freien, glücklichen Dasein. Es wurde sogar 1982/83 fürs DDR-Fernsehen verfilmt (Ausstrahlung am 25. März 1984, dem Welttheatertag), blieb mit 157 Aufführungen bis 1993 im Repertoire und zählte, zusammen mit Volker Brauns hochpolitischer Fortschreibung in sinnigerweise gleicher Besetzung ein Jahrzehnt später („Die Übergangsgesellschaft“), zu den größten Erfolgen des Gorki – wie des DDR-Theaters überhaupt.

Jetzt wird das Gorki siebzig – der passende Anlass, zurück zu schauen. Zu fragen, wie schmerzlich das damals war auf der Bühne mit Olga, Mascha, Irina und ihren vergeblichen Träumen von einem zum besseren veränderten Leben, wie das Publikum reagierte, was draußen, jenseits des Theaters, sich bewegte oder eben nicht bewegte in der eingemauerten, stagnierenden Gesellschaft. Und wie es heute steht um die alten Sehnsüchte, um Illusionen, Utopien.

Großartige Idee für eine szenische Geburtstagsfeier, ein signifikantes Beispiel aus der Theatergeschichte kurz zu schließen mit Gegenwärtigem.

Also griff sich Regisseur Christian Weise das historische Filmdokument von 1984 und spulte die Kassetten, grobkörnig verzerrt (der zeitliche Abstand) ab über eine Wand aus Monitoren. Der Ton bleibt gedimmt, dafür Live-Gedudel einer Elektro-Orgel. Dazu spricht eine Gruppe durchweg männlicher Schauspieler in froschgrünen Ganzkörperanzügen den Text möglichst lippensynchron wie im Synchronstudio und stellt obendrein noch die Gestik der Figuren aus den TV-Flimmerkisten im Rücken (perfekt!) nach. Ein Dressurakt.

Was Gelächter auslöst im Saal. Tschechow, Langhoff, das wunderbare Gorki-Ensemble von damals als alberner Witz vorgeführt.

Und die Blödelei hört nimmer auf. Mal im Look der grünen Männchen, mal als Prinz-Eisenherz-Parade. Immer schön nachgeäfft die Langhoff-Inszenierung. Diese totale Sinnlosigkeit soll, so die Ansage, ein aufschlussreiches „Reenactment“ sein. Die Dramaturgie spricht großspurig von „Rückeroberung des Films für die Bühne“. Welch peinlicher Wahn. Man meint, „die respekt- und mühevolle Einverleibung des Vergangenen“ könne „einen besonderen Raum eröffnen“. Doch da ist kein Respekt, nirgends, Und ein besonderer Raum schon gar nicht. Nur lächerlich verfüllte Leere.

Doch halt, ein paar neu hinzugefügte, aktuelle Schnipsel Video zeigen die „Alt“-Schwestern Monika Lennartz und Ursula Werner im Interview mit ein paar Sätzen übers einst und jetzt. Dabei fällt der lakonische Satz: „Die Zeiten damals waren schlechter, die Theaterarbeit besser.“

Die lieblose, gefühllose, hochmütige, selbstverliebte Regie ignorierte ihn. Wie alles, was da war und was heute ist. – Glückwunsch zum Geburtstag, trotzdem.

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3. Renaissance: Grelles Geglitzer im Tollhaus 

Und gleich noch ein Theatergeburtstag: Das Renaissancetheater in der Hardenbergstraße wird 100! Seine Ausstattung hat zwar nichts von Renaissance, dafür ist sie kostbarstes Art-Déco: Rosenholz, Kristall, Messing, Intarsienbilder mit Motiven der Commedia dell’Arte – allein schon die Räumlichkeiten ein Fest der Eleganz!

Übrigens, zur offiziellen Jubiläumsfestlichkeit prunkt Ende Oktober eine Gala mit Promis aller Arten. Trotzdem wird im Spielplan schon mal jetzt ordentlich Party gemacht. Mit der altenglischen Satire „Das Halsband“ von John Vanbrugh (1664–1726), die Guntbert Warns, der mit geschickter Hand den feinen Rosenholz-Laden dirigierende Intendant und gewitzte Regisseur, die also der erfindungsreiche Warns mit Charme, Karacho und herrlich sprühendem Ensemble als „Post-Renaissance-Komödie“ auf die Bretter schmeißt.

Die poppig und schillernd kostümierte Chose unterm herrlich neon-bunt illuminierten Bühnenzelt ist eine deutschsprachige Erstaufführung – aber wer kennt bis jetzt Vanbrugh, einen äußerst umtriebigen Geschäftsmann, der sich als Geheimagent verdingte, im Knast schmorte, in London ein Theater gründete, Mitglied im Kit-Kat-Club war (eine politisch-liberale Herrengesellschaft zur Stärkung des Parlamentarismus). Und der schließlich als Architekt reüssierte. Als sein berühmtestes Bauwerk gilt Blenheim Castle, der Geburtsort von Winston Churchill, das nebenbei.

Und nebenher schrieb John bizarre, deftige, von Moralin unberührte und gerade deshalb seinerzeit populäre Stücke über die Schmuddelecken der guten Gesellschaft. Titel: „Der Rückfall“, „Die Tugend in Gefahr“…

Oder eben das von Warns lustvoll ausgegrabene „Halsband“, eine Petitesse aus dem Tollhaus, in der eine unbekümmert-zynische „Gemein“-schaft (Banker-Milieu) wie verrückt intrigiert und sich alles um Geld und Geilheit dreht. Die Regie inszeniert die Klamotte um den glitzernden Halsschmuck, der aberwitzig kriminelle Machenschaften auslöst, in frisch, froh, frei und frecher Übersetzung selbstverständlich grell glitzernd (gibt was zu schauen). Sowie total über-, ab- und durchgedreht. Also mit Wahnsinnstempo. Ist ja auch Wahnsinn. Wahnsinn wie immer. Gratulation!