25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Paul Signac – Malerei für „Gehirn und Auge“

von Klaus Hammer

Im ausgehenden 19. Jahrhundert verließen die französischen Künstler Paris, gingen nach Süden, in die Provence und an die Côte d’Azur. Man suchte nach einer Landschaft, die eine größere Reinheit des Naturempfindens ermöglichte; in der Natur wollte man eine Art chromatischer Kraft entdecken, Farben, die den ganzen Menschen ansprachen und auf Leinwand festgehalten werden konnten. 1888 übersiedelte Vincent van Gogh in das sonnendurchglühte Arles, „weil man nicht nur in Afrika, sondern schon von Arles an herrliche Kontraste von Rot und Grün, von Blau und Orange, von Schwefel und Lila finden kann. Alle wirklichen Maler müssen dahinkommen, müssen zugeben, dass die Farben hier anders sind als im Norden“, schrieb er an seinen Bruder Theo.

1892 ließ sich auch Paul Signac, der begabteste von George Seurats Nachfolgern, in dem noch unberührten Fischerdörfchen Saint-Tropez nieder. Er liebte es, mit seinem Segelboot die Meeresufer und Häfen der Mittelmeerküste zu erkunden und kaufte in Saint-Tropez ein Haus, das er zu seinem Atelier einrichtete. Noch im gleichen Jahr – 1892 – entstand „Der Hafen bei Sonnenuntergang“: Die in Punkten aufgetragenen Komplementärfarben Violett und Orange lassen das Bild vibrieren. Das Licht wird nicht als eine den Gegenstand umhüllende Atmosphäre gestaltet, sondern als reizgebende Partikel.

1904 war Henri Matisse bei Signac in Saint-Tropez zu Gast und ging ein Jahr später zusammen mit André Derain zum Malen weiter an der Küste entlang in Richtung Spanien, nach Collioure an der Côte Vermeille.

Doch werfen wir den Blick noch einmal zurück auf Signacs Pariser Zeit. 1884 war es hier zum Aufeinandertreffen mit Georges Seurat gekommen, das Signacs künstlerischer Entwicklung die entscheidende Wende gab. Signac, empfänglich für systematische Methoden und die Theorie der Farben, gab den kurzen Pinselstrich auf, den er bei den Impressionisten kennengelernt hatte, um sich auf den von Seurat erfundenen Divisionismus, respektive Pointillismus einzulassen. Beide entwickelten zur Befreiung der Farbe eine ungewöhnliche punkt- und fleckenartige Struktur. Sie bemühten sich in Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Farberkenntnissen um die Objektivierung und Systematisierung der Bildsprache. Das an sich Einfache und Eindeutige ihrer Gemälde wird erst beim Sehen zum vieldeutigen sinnlich-mentalen Erlebnis, zu einer Malerei für „Gehirn und Auge“ (Signac).

Nach dem Tod Seurats 1891 waren Signac und Henri-Edmond Cross zu den Galionsfiguren der neoimpressionistischen Bewegung geworden. Zu Beginn der 1890er Jahre verlagerten dann beide Maler ihren Lebensmittelpunkt von Paris an die Côte d’Azur und entwickelten die Bildsprache des Pointillismus in wechselseitiger Einflussnahme weiter. Wie viele ihrer neoimpressionistischen Kollegen sympathisierten sie mit dem Anarchismus, dessen Anliegen die Befreiung des Individuums von gesellschaftlichen und staatlichen Zwängen war. Im von der Industrialisierung unbelasteten Süden Frankreichs und in der landschaftlichen Schönheit der Riviera sahen beide Maler eine Metapher für das Ideal einer anarchistischen Sozialutopie, der sie in ihren Naturdarstellungen Ausdruck verleihen wollten.

Wie konnten die französischen Künstler ihre Vision von Wirklichkeit in Farbe umsetzen? Sie schien sich aus einer Technik zu ergeben, bei der man Licht und Farbe in eine Oberfläche aus Tüpfelchen auflöste. So konnte man Dynamik gliedern und die der Farbe auf Leinwand innewohnende Unbeweglichkeit umgehen. Dabei ergeben sich aufschlussreiche Zusammenhänge. 1886 hatte Seurat sein berühmtes Gemälde „Ein Sonntagnachmittag auf der Ile de la Grande Jatte“, das Manifest seiner neoimpressionistischen Theorie, gemalt. Eigentlich war das ein typisch impressionistisches Thema: Ein sonniger Sonntagnachmittag in einem Park voller Leute auf einer Seine-Insel bei Paris. Doch verkehrte Seurat den Impressionismus in sein Gegenteil. All die Vielfalt und die Zufälligkeiten der Natur, die die Impressionisten auf die Ebene der Kunst erhoben hatten, waren hier nun in eine formale Struktur geronnen, die Welt des Gewöhnlichen war gesehen als universale Geometrie geordneter Vertikalen und Horizontalen. Das impressionistisch Schwebende ist erstarrt. Es scheint, als bildeten Gruppen von Figuren, magnetisch zueinander hingezogen, eine Vignette. Die Grande Jatte wird zu elysischen Gefilden.

An dieses Bild knüpfte Signac 1895 mit seiner großen allegorischen Komposition „Die Zeit der Harmonie“ an, die ein utopisches Arkadien zeigt, Menschen, die am Meer ihren Vergnügungen nachgehen, ihre Freizeit gestalten. Diese Komposition hat sich bei Matisse mit der traditionellen Vorstellung vom „Fête champêtre“ (in der Malerei ein ländliches Fest) verbunden und ihn zu einem eigenen weiteren Bild – zu „Reichtum, Ruhe und Begierde“ von 1904/05 – inspiriert. In ihm verbindet sich Matisses literarisches Interesse an Baudelaire mit seinen arkadischen Phantasien, und hier haben sicher die Tischgespräche mit Signac über das kommende goldene Zeitalter ihre Wirkung getan.

Vor 130 Jahren – 1892 – war Signac also an Bord seines Segelbootes „Olympia“ in Saint-Tropez angekommen, und aus diesem Anlass hat ihm das Musée de l’Annonciade in Saint-Tropez, das selbst eine bedeutende Sammlung französischer Meister des Impressionismus, Neoimpressionismus und Fauvismus besitzt, eine Retrospektive mit Werken gewidmet, die in Saint-Tropez, an der Côte d’Azur und in der Provence entstanden sind. (Die Exposition ging am 9. Oktober 2022 zu Ende.)

Signac malte vor allem Landschaftsgemälde in hellen, leuchtenden Farben. Von der großen Anziehungskraft geprägt, die Küste und Meer auf ihn ausübten und die für ihn ein Symbol der Freiheit waren, ging es Signac nicht allein um die Thematisierung von Landschaft, Licht und Farbe. Ohne eine Illusion von Tiefe oder Bewegung zu erzeugen, erstarrt ein neoimpressionistisches Bild in seinen Dimensionen. Diese Unbewegtheit erfordert jedoch eine besonders dynamische Beteiligung des betrachtenden Auges. Wir haben die Bildebene aktiv zu untersuchen, den Peripetien der Farben zu folgen und Harmonien in Kontrasten und Kontraste in Abstufungen zu entdecken. Zur suggestiven Energie der Farben und Farbtöne gesellt sich die Energie der Linien, die ebenfalls planvoll angeordnet sind.

„Der Hafen bei Sonnenuntergang“ gehört zu den ersten pointillistischen Bildern, die Signac nach seiner Entdeckung der Côte d’Azur malte, und steht stilistisch noch im Zeichen Seurats. Im Licht der untergehenden Abendsonne erscheinen Himmel und Meer entlang des Hafens in goldenen Tönen, die in einen ausgeprägten Kontrast mit den in Schattierungen von Blau und Violett gehaltenen Bildelementen treten. Die feierliche Abendstimmung und der Eindruck völliger Stille unterstreichen den träumerischen Charakter, der für Signacs Darstellungen von Saint-Tropez kennzeichnend ist.

Aquarelle waren für den ungeduldigen Signac eine Alternative zur strengen Ölmalerei im Atelier. Zunächst nutzte er deren durch Dünnflüssigkeit, Transparenz und Schnelligkeit gekennzeichneten technischen Möglichkeiten, um Farbskizzen nach der Natur anzufertigen, die er anschließend im Atelier als Ausdrucksgrundlage verwendete. Aber bald setzte er sie als unabhängiges Arbeitsmittel ein, und am Ende sollte er sogar mehr in Aquarell malen als in Öl.

Die Farbenzerlegung hingegen bleibt für ihn das beste Verfahren, ein „möglichst harmonisches, leuchtkräftiges und farbiges“ Bild zu erhalten. Das Verfahren des Punktes wird als unzulänglich erkannt: „Der Neoimpressionist pointilliert nicht, sondern zerlegt“. Signac verwendet nur reine Spektralfarben, die nicht auf der Palette gemischt, sondern als einzelne Tupfer aufgetragen werden. Farbe wird zum eigenständigen Bildmittel mit Lichtqualitäten. Das Motiv tritt zugunsten der Farbwirkung weiter in den Hintergrund. Signacs ganzes künstlerisches Schaffen ist künftig vom Rhythmus zwischen Polychromie und Monochromie geprägt.

In seiner späteren Phase realisierte er einen großflächigen Farbauftrag. „Segelbote im Hafen von Saint-Tropez“ (1893) lässt die Lebensfreude des Mittelmeerhafens in der intensiven Auseinandersetzung mit Licht und Farbe spüren. Die Flecken vergrößern sich; Kontraste werden genutzt, um die Farben noch mehr zur Wirkung zu bringen. Anstelle eines analytischen Zugangs wählte er nun einen zunehmend intuitiven und subjektiven.

„Pinien in Sait-Tropez“ (1909): Die Pinie funkelt in warmen, hellen und strahlenden Farben. Hier ist das Bild nicht mehr der Technik, sondern der Emotion, dem Gefühl untergeordnet. Helle Akkorde, festliche und fröhliche Farbkombinationen verweisen bereits auf die Werke der Fauves, einer Bewegung innerhalb der französischen Avantgarde, die für ihre leuchtenden Farben bekannt ist, vor allem auf André Derain. Signacs Befreiung der reinen prismatischen Farbe vom koloristischen Motivbezug hat nahezu alle Exponenten der beginnenden Moderne zu neoimpressionistischen Experimenten angeregt: Wassily Kandinsky ebenso wie Kasimir Malewitsch oder Piet Mondrian, Henri Matisse wie auch Ernst Ludwig Kirchner.