25. Jahrgang | Nummer 21 | 10. Oktober 2022

Demografische Herausforderungen in China

von Hans-Jörg Probst

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie haben in China die Debatten über die langfristige Tragfähigkeit der Sozialsysteme weiter befeuert. Ausgelöst wurden sie vom Alterungsprozess der chinesischen Gesellschaft, dessen Dynamik seit der Jahrtausendwende stetig zunimmt. Er verläuft in China deutlich schneller als im internationalen Vergleich. Das bestätigte der nationale Zensus 2020. Der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung war innerhalb eines Jahrzehnts um 6,8 Prozent gesunken, während der Anteil der Altersrentner im gleichen Zeitraum um 5,4 auf rund 19 Prozent (2021) stieg. Nach WHO-Kriterien hat China die Grenze zur „Altersgesellschaft“ (14 Prozent) bereits überschritten. Hochrechnungen der Chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften aus dem Jahr 2019 prognostizieren ein Schrumpfen der Bevölkerungszahl ab Mitte dieses Jahrzehnts. Die Sicherungssysteme, die derzeit hauptsächlich auf Umlagefinanzierung und Subventionen durch örtliche Sozialverwaltungen beruhen, werden mittel- und langfristig erhebliche Defizite verbuchen müssen.

Angesichts dessen diskutieren Regierung und Denkfabriken diverse Ansätze, wie mit der Gemengelage aus demografischen Veränderungen, Umstellung der Volkswirtschaft auf innovationgestützte, ökologische Entwicklungsziele und Pandemiefolgen umzugehen ist. Für die staatlichen Sozialsysteme zeichnet sich ein moderater Paradigmenwechsel ab, der ergänzenden kommerziellen Programmen stärkeres Gewicht verleiht.

In der Familienpolitik hat China den Paradigmenwechsel bereits vollzogen. Die Ein-Kind-Politik, die über dreieinhalb Jahrzehnte das Leben urbaner Familien prägte, ist seit 2015 beendet. Statt staatlich erzwungener Geburtenbegrenzung ist jetzt Geburtenförderung das Ziel. Vorerst wird zwar weiter auf eine erwünschte Familiengröße orientiert – nunmehr drei Kinder pro Familie –, weil sie auch mit der Planung von Bildungseinrichtungen und der Belastbarkeit der medizinischen Infrastruktur verbunden ist. Aber es mehren sich Stimmen, die eine vollständige Abkehr von administrativen Vorgaben und die Anwendung finanzieller Anreize fordern. Im August 2022 veröffentlichten 17 der 29 Staatsratsministerien gemeinsam einen Katalog familienpolitischer Handlungsoptionen, die den Spielraum für Fördermaßnahmen der Sozialverwaltungen in Provinzen und Städten deutlich erweitern. Dazu gehören Erhöhungen des Kindergelds, Steuerermäßigungen, vorrangige Vergabe von Sozialwohnungen, besserer Zugang zu staatlichen Entbindungskliniken und deutliche Verlängerung der bezahlten Elternzeit nach Geburt eines Kindes (in Shanghai beispielsweise von 98 auf 158 Kalendertage).

Welche langfristigen Wirkungen diese Initiativen auslösen, bleibt abzuwarten, denn sie verändern nicht die grundlegenden sozialen Rahmenbedingungen. Zu groß waren und sind die wirtschaftlichen Belastungen, denen junge Menschen in ihrer Lebensplanung durch Arbeitsmarktschwankungen und Mobilitätsanforderungen ausgesetzt sind. Auch die Prioritäten für die Verwendung persönlicher Ersparnisse haben sich zugunsten des Erwerbs von Wohneigentum verändert: Es macht inzwischen den Löwenanteil urbaner Wohnungsmärkte in den attraktiven Großstädten aus. Daher ist eine grundsätzliche Trendwende im Abschwung der Geburtenraten wohl nicht zu erwarten. Die Fertilitätsrate von 1,3 Kindern pro Frau liegt bereits jetzt unter den Werten entwickelter Industriestaaten (Deutschland 1,4; USA 1,6; Japan 1,35). Der Trend wird sich eigendynamisch verstetigen, wenn die Rate nicht wieder auf mindestens 2,1 steigt.

Der Druck auf die umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme, allen voran die Altersversorgung, wird demnach zunehmen. Pilotprojekte der chinesischen Regierung lassen derzeit zwei Grundrichtungen in Reaktion auf diese Herausforderung erkennen: das Erschließen von Optimierungspotential innerhalb der staatlichen Alterssicherungssysteme sowie der Aufbau zusätzlicher, kommerzieller Versorgungssäulen wie Betriebsrenten („zweite Säule“) sowie staatlicher und privatwirtschaftlicher Pensionsfonds („dritte Säule“). Es zeichnet sich ab, dass die Sozialrenten nur noch eine Basisversorgung darstellen werden, während der Anteil kapitalgedeckter Programme steigt.

Die dezentrale Verankerung der staatlichen Sozialversorgung bei Kommunalregierungen ermöglichte bisher eine flexible Anpassung von Beitragssätzen und Leistungen an das unterschiedliche Entwicklungsniveau der Regionen. Zunehmend werden aber die Nachteile der Dezentralisierung für die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme sichtbar. Einige Provinzen Nordost- und Westchinas, aus denen Arbeitskräfte seit Jahren in die wirtschaftlich stärkeren Provinzen Süd- und Ostchinas abwandern und in denen folglich der Anteil älterer Menschen weit über dem Landesdurchschnitt liegt, verzeichnen schon jetzt Defizite in den Sozialversicherungsfonds. Dazu kommt, dass staatliche Sozialleistungen bisher nur in Verbindung mit der sogenannten Haushaltsregistrierung (Hukou) abgerufen werden können. Wer in Nanjing registriert ist, erhält in Shanghai keine Sozialleistungen. Diese Regelung entstand Ende der 50er Jahre unter völlig anderen Entwicklungsbedingungen. Sie behindert erheblich die Mobilität im chinesischen Arbeitsmarkt und hinterlässt Arbeitsmigranten, die zeitweilig oder permanent ohne jeglichen sozialen Schutz an anderen Orten als dem ihrer Haushaltsregistrierung leben und arbeiten. Laut Staatlichem Amt für Statistik betraf dies im Jahr 2020 landesweit 375 Millionen Menschen. Vor diesem Hintergrund hat der Staatsrat beschlossen, innerhalb des derzeitigen Planjahrfünfts (2021-2025) die Verwaltung der Sozialversicherungen auf die Ebene von Provinzen zu heben, um sie letztendlich schrittweise auf Landesebene zu zentralisieren. Damit vermindert sich auch das Risiko der Zweckentfremdung von Sozialfonds durch Kommunalregierungen – etwa für lokale Infrastrukturprojekte oder schlicht für die Umgehung der von der Zentralregierung gesetzten Neuverschuldungsgrenzen. Parallel dazu übernimmt der Nationale Sozialversicherungsfonds – ursprünglich nur als nationaler Reservefonds zur finanziellen Absicherung von Sozialleistungsansprüchen geschaffen – zusätzlich Aufgaben als Kapitalanlagegesellschaft für rentable Investitionen der Sozialfonds im chinesischen Kapitalmarkt. Zudem wurde ein interregionaler Sozialversicherungspool eingerichtet, mit dem Defizite in den Sozialfonds einzelner Provinzen durch Transfer von Überschüssen anderer Provinzen ausgeglichen werden können.

Eines der sensibelsten Reformvorhaben ist die Anhebung der Regelaltersgrenzen für den Rentenbeginn. Das Thema ist politisch umstritten, es gibt überzeugende Gründe für ein Pro oder Contra. Die Altersgrenzen stammen noch aus den 50er Jahren: 50 oder 55 Jahre für Frauen, je nach Art der Berufstätigkeit, und 60 Jahre für Männer. Damals lag die durchschnittliche Lebenserwartung unter 50 Jahren, inzwischen ist sie auf 77 Jahre gestiegen (2019). Der Fünfjahrplan sieht eine Anpassung grundsätzlich vor, enthält aber keine konkreten Angaben. Befürworter des Vorhabens verweisen auf die Notwendigkeit, auf diese Weise die Zahl der Beitragszahler für die Sozialfonds zu vergrößern, wenn die Zahl der Neuzugänge im Arbeitsmarkt sinkt. Skeptiker betonen dagegen, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit im Zeitalter der Digitalisierung mit hohem Nachschulungsaufwand für ältere Arbeitnehmer verbunden wäre und das Problem defizitärer Sozialbudgets langfristig nur durch Produktivitätserhöhung in volkswirtschaftlichen Dimensionen zu lösen ist.

Politisch unumstritten ist die Erweiterung des Umfangs kommerzieller Rentenversicherungsprogramme, mit denen die staatlichen Sozialsysteme langfristig ergänzt werden können. Schon seit den 90er Jahren dürfen Wirtschaftsunternehmen ihren Mitarbeitern – vorrangig Fach- und Führungskräften – zusätzlich zur Sozialrentenversicherung die freiwillige Mitgliedschaft in Betriebsrentenprogrammen anbieten. 2015 wurde dieses Modell auch für Mitarbeiter staatlicher Behörden übernommen. Die Flächenwirkung beider Programme blieb allerdings bisher trotz steuerlicher Begünstigung begrenzt. Mit Ausnahme großer Staatsunternehmen beteiligen sich daran weniger als 1 Prozent aller Wirtschaftsunternehmen und nur 5 Prozent aller Sozialrentenversicherten. Diese „2. Säule“ der Altersvorsorge soll aber durch größere Vielfalt der Kapitalanlageoptionen ausgebaut werden.

Der laufende Fünfjahrplan sieht nun auch den Aufbau einer „3. Säule“ der Altersvorsorge in Gestalt kommerzieller Pensionsfonds vor. Eine Beteiligung internationaler Finanzinvestoren ist ausdrücklich erwünscht und ein Gemeinschaftsunternehmen der staatlichen China Construction Bank mit dem US-amerikanischen Kapitalanlageunternehmen Black Rock wurde bereits zugelassen. Chinas Kapitalmarkt wird demnach weiter geöffnet. Dazu gehört auch der Plan, den Hongkonger Versicherungsmarkt in die Entwicklung des Wirtschaftsraums Perlflussdelta zu integrieren, nachdem der Handel an den Börsen von Shanghai und Hongkong bereits 2014 verbunden wurde. Entgegen den Entkopplungs- und Containment-Absichten der USA-Regierung und der Europäischen Kommission wird angesichts dessen das Interesse internationaler Banken und Versicherer an der Erweiterung ihrer Direktinvestitionen in China erneut zunehmen.

Der bevorstehende 20. Parteitag der KP Chinas wird sich weiter mit der Nachhaltigkeit staatlicher Sozialprogramme unter Bedingungen des demografischen Wandels befassen müssen. Grundsätzlich aber hat China wirtschaftspolitisch die Weichen für höhere Produktivität in vielen Industriebranchen bereits gestellt. Das ist die letztlich entscheidende Voraussetzung auch für langfristige Nachhaltigkeit der Sozialsysteme und kann China dem politischen Ziel einer Gesellschaft des „Gemeinsamen Wohlstands“ näherbringen.

Hans-Jörg Probst ist Wirtschaftssinologe und lebt in Berlin.