Die Wahlergebnisse der ersten Runde in Brasilien ergeben folgende Bilanz: Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva (Arbeiterpartei – PT), 76-jährig, hat gesiegt, für ihn stimmten 48,41 Prozent, für den aktuellen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro (Partido Liberal – PL) 43,22 Prozent. Von den weiteren neun Kandidaten erzielte die Kandidatin der „Demokratische Bewegung Brasiliens (MDB) Tebet 4,2 Prozent. Ciro Gomes, Demokratische Arbeiterpartei Brasiliens (PDT), der neben Bolsonaro aggressivste Gegner Lulas, der sich als Vertreter eines „dritten Weges“ darstellt und zugleich die rechte Gefahr, die von Bolsonaro ausgeht, klein redet, drei Prozent. Über fünf Millionen Stimmen waren ungültig.
Erste brasilianische Wertungen stellen fest, dass neben „einer demokratischen Mehrheit“ eine „resiliente und starke Rechte“ existiert. Gleichzeitig wird eingeschätzt, dass die PT und Lula in der Lage waren, dieser Gegenbewegung standzuhalten. Voraussagen, die für Lula einen Vorsprung von zehn bis zwölf Prozent gegen Bolsonaro angaben, lagen falsch.
Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zum Senat brachten wenig Änderungen. Beide Kammern bleiben konservativ dominiert, wobei Bolsonaros PL allerdings zukünftig die stärkste Fraktion im Senat stellen wird. Auch im Abgeordnetenhaus hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten rechter Parteien verschoben. Die Linke konnte Positionen halten, verfehlte allerdings das Ziel, eine Mehrheit zu erreichen. Die politische Polarisierung, die auch den Präsidentenwahlkampf kennzeichnete, bleibt bestehen.
Das System des Bolsonarismus zeichnet sich durch eine Serie von Irregularitäten und kriminellen Handlungen aus. Im Zentrum steht die Familie des amtierenden Präsidenten, die kompetent und effizient soziale Netzwerke manipuliert. Es werden Fake News verbreitet, die ihre Abnehmer vor allem in Teilen der Bevölkerung finden, die sich ausschließlich über diese Netze informieren. Die vier Söhne Bolsonaros unterhalten in Form einer familiären Arbeitsteilung Verbindungen zu Bolsonaro unterstützenden Milizen, zu sozialen Medien und auf internationaler Ebene zu Steve Bannon (USA), Matteo Salvini (Italien) und zur Rechten in Europa.
Der Bolsonarismus setzte einen grundlegenden Umbau des Staates durch, der die ultrarechten, konservativen Vorstellungen der Bolsonaro-Gruppe widerspiegelt. Religiöse Hardliner und evangelikale Fundamentalisten wurden in wesentlichen Ministerien eingesetzt. 1990 waren noch 80 Prozent der brasilianischen Bevölkerung katholisch, 2020 sind es 50 Prozent. Der Evangelismus ist eine in den USA entstandene ideologische Strömung des Protestantismus. Sie ist dort präsent, wo der Staat versagt.
Das System verhinderte Schritte zur Sicherung der Rechte von Frauen, der indigenen und farbigen Bevölkerung und zur Sicherung des Amazonasbeckens gegen Raubbau und Brandrodungen. Zugleich wurde etwa 8000 Militärs den Weg in den Staatsdienst geebnet. Mit dem Einsatz von Militärs werden wesentliche Institutionen des Staates kontrolliert.
Die Anhänger Bolsonaros entfalteten einen politisch-ideologischen Aktivismus, mit dem eine staatliche Parallelwelt geschaffen wurde. Direkte Angriffe wurden gegen Richter des Obersten Bundesgerichts (STF) und des Obersten Wahlgerichtshofes (TSE) sowie gegen das elektronische Wahlsystem gerichtet. Zur Kontrolle setzte Bolsonaro den ehemaligen Verteidigungsminister General Fernando Azevedo als Generalsekretär des TSE ein.
Diesem Aktivismus ist ein religiöser Fanatismus eigen, , getragen von protofaschistischen Kräften um Bolsonaro, von Ultraliberalen, wie dem Wirtschaftsminister Guedes, der alten Rechten in Gestalt des Agrobusiness des brasilianischen Mittleren Westens in Koalition mit einer theologischen Elite und Militärs, die heute nicht nur rechts sondern vor allem neoliberal ausgerichtet sind. In der letzten Debatte im TV-Kanal „O Globo“ traten sechs Kandidaten gegen einen an, gegen Lula: Im Mittelpunkt, besonders von Bolsonaro vertreten, standen „Gott, Vaterland, Familie und Freiheit“. Wesentliche Themen, die Brasilien gegenwärtig bewegen, wurden nicht debattiert. Die Rechte führt ihren ideologischen Angriff gegen den laizistischen Staat fort.
Die zivilisatorische und wirtschaftliche Krise wurde verstärkt durch eine Welle der Deregulierung und der Privatisierung von Teilen der Unternehmen Petrobras und Eletrobras. Die Vergabe von Explorationsrechten von Ölfeldern an ausländische Unternehmen führte zu einer weiteren Zunahme der sozialen Ungleichheit. Deindustrialisierung, Denationalisierung und Staatsverschuldung verschlingen Ressourcen, die der Mehrheit des Volkes entzogen werden. Nach Angaben des Tax Justice Network beträgt der Umfang brasilianischen Kapitals in Steueroasen ein Drittel des BIP. Gemeinsam mit dem Agrobusiness kontrollieren ausländische Transnationale wie ADM, Bunge, Cargill und Dreyfus 80 Prozent des Getreidehandels. Der Prozess der Privatisierungen eröffnete Transnationalen wie BlackRock, Glencore, Billiton und anderen den Zugang zu den Ressourcen des Landes. Brasilien verlor seine Unabhängigkeit nicht durch Kriege sondern durch seine Finanzelite, die sich ausländischen Interessen unterordnet.
Bolsonaro hinterlässt ein Land, das durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre ausgezehrt ist. Der Kampf gegen Hunger, Misere und Arbeitslosigkeit (zehn Prozent) und die Ausarbeitung eines Planes der nationalen Wiedergeburt müssen im Mittelpunkt einer möglichen Regierung Lulas stehen. Das bedeutet Programme für die Mehrheit der Bevölkerung und Investitionen in die Infrastruktur.
Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva, der sich selbst als „veredelten Sozialisten“ („Sou um socialista refinado“) bezeichnet, gab sich nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse optimistisch. Erkämpft in einer Allianz von Parteien, die die aus dem linken und Mitte-links Spektrum kommen und für eine Demokratisierung und den Wiederaufbau Brasiliens eintreten,.“ An dieser Allianz (Coligacao Brasil de Esperanca – Koalition der Hoffnung) sind neun Parteien beteiligt, darunter die PSOL (Partei für Sozialimus und Freiheit), die PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens), die PV (Grüne Partei), die PSB – (Sozialistische Partei Brasiliens) und die REDE, die Partei von Marina Silva, ehemals Ministerin in der Lula-Regierung, (2003–2008).
Lula näherte sich Geraldo Alckmin, zweimaliger Gouverneur des Staates Sao Paulo, an, der 2016 das Abwahlverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff unterstützte. Innerhalb der PT löste dieses Vorgehen Lulas Unbehagen aus. Teile der PT mussten sich aber der Tatsache beugen, dass Lula als Gründer der PT und als Vermittler gesehen wird und deshalb letztlich über Wahlpropaganda, Programm und Strategie entscheidet. Alckmin trat im März 2022 der PSB (Partido Socialista Brasileiro – eine linksorientierte Partei) bei und kandidiert als Vizepräsident an der Seite Lulas.
Eine mögliche Lula-Regierung muss sich von den Fesseln der Austeritätspolitik befreien. Mit den Eliten muss ein neuer „Sozialpakt“ ausgehandelt werden. Lula, so ist zu vermuten, würde dabei weiter seiner Linie einer Transformation ohne Konfrontation mit dem Kapital, benannt als Lulismus, folgen.
Die gegenwärtige politische Konstellation in Brasilien wird dadurch gekennzeichnet, dass Sektoren der internen Bourgeoisie Bindungen zu Bolsonaro gelöst haben und die Gefahren erkennen, die ein Weiterso mit sich bringen würde. Lula unterstützen breite Kreise der Bevölkerung, Unternehmer, Intellektuelle, Künstler und soziale Bewegungen. Lula erklärte nach einer Besprechung im Koordinierungsgremium der Wahlkampagne am 3. Oktober 2022: „Jetzt geht es bei der Auswahl der Partner nicht mehr um Ideologie. Nun werden wir mit allen sprechen, die in diesem Lande politisches Gewicht, Repräsentativität und politische Bedeutung haben.“ Damit ist er wieder „der Lulinha des Friedens und der Liebe“ wie schon in der Vergangenheit.
Der zweite Wahlgang wird entscheiden, welchen Weg Brasilien in Zukunft gehen wird.
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