25. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2022

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Die Bettwurst – das Musical“ – Bar jeder Vernunft / „Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie“ – Die Vaganten.

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Bar jeder Vernunft: Grelle Frivolität, süße Sehnsucht 

Bunter Hut tut gut, diesmal noch mit turmhoher Spitze wie eine Zuckertüte, dazu wallende Pelerine übersät mit Blümchen. Das ist – selbst im achtzigsten Lebensjahr – eines Paradiesvogels zum Premierenfeier-Auftritt würdig. Rosa von Praunheim, umstrittener Tabubrecher, Uropa der Schwulenbewegung, wackerer LGBTQ-Aktivist und notorischer Filmemacher (demnächst „Rex Gildo. Der letzte Tanz“) – also Rosa ließ es jetzt nochmal herzig krachen mit einem Aufguss seines schamlos die Verspießerung der sexuellen Revolte aufblasenden Films „Die Bettwurst“ von 1971. Heute ein Oldie (oder früher Klassiker) des alles ironisierenden „Camp“.

Nun jedoch kommt die alte, aber immergrüne Herz-Schmerz-Kinogeschichte zwischen Luzi, einer handfesten ältlichen Schreibkraft der Kieler Gerichtsmedizin, und dem knackigen Burschen Dietmar aus Mannheim, der „als Tunte in Berlin“ zwar ungute, aber trotzdem herrliche Erfahrungen machte, nun kommt diese eher problematische Zuwendung der beiden nach Vertrauen, Schutz, Liebe (und Sex) dürstenden Einsamkeiten als Musical ins Spiegelzelt. Wo sich am Büchertisch, nebenbei bemerkt, Praunheims frisch verfasstes Buch „Hasipupsiloch“ stapelt.

Also „das“ Musical mit schmissiger Band, mit immerhin 27 witzig getexteten, schlagerhaften Liedern. Und mit köstlichen, von einem chorisch singenden Tanz-Trio kunterbunt gerahmten Slapstick-Spielchen zwischendurch (Buch und Regie: Rosa von Praunheim; Musik: Heiner Bomhard).

Das alles ist selbstredend vor Kitsch kreischendes Camp. Eine grelle flotte Frivolität mit süßer Sentimentalität, die dennoch das Rührselige nicht kalt beiseite wischt. Doch die dauerhaft schwelende Sehnsucht nach trauter Innigkeit findet leider erst über den Wolken im Himmel bei Onkel Gott „mit Bart oben und unten“ sowie entzückenden Engeln ihre happyendliche Erfüllung.

Das alles ist erquicklich machbar allein mit den beiden Allstars: Der großartigen, stimmlich wuchtigen, leiblich ausladenden Anna Mateur als Luzi (Berühmte Häuser bitte buchen!), sowie dem schlanken, ranken komödiantischen Schlaks Heiner Bomhard als Dietmar; gern im knappen Tiger-print-Höschen.

Diese tollen, stimmlich wie beweglich saustarken Komödianten ertüchtigen freilich das kleine Stück erst wirklich fürs griffige Entertainment. Und alle feiern zum Schluss die Bettwurst als orthopädisch nützliche, prall gestopfte Nackenrolle, als phallischen Traum, als Sinnbild einer alles Hemmende hinweg lachenden freien Liebe. ‑ Bettwürste für alle!

P.S.: Hinweis für Fans und Neugierige: Der Film von 1971 steht auf YouTube. Rosas tolle biografische Revue „Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht“ im Deutschen Theater 2018 steht als Kritik im Theaterberlin / Das Blättchen 5/26.02.2018; sein Politspektakel „Hitlers Ziege“ im Blättchen 22/26.10.2020.

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Vaganten: Vom Bayern-Stadel an die Wallstreet 

„Lehman Brothers“ – der Begriff klang damals, gut ein Jahrzehnt ist’s her, beinahe wie „Weltuntergang“. Brachte doch die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, der bis dato größte Konkursfall in den Vereinigten Staaten, anno 2008 die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Seither gilt „Lehman Brothers“ als Schreckenssymbol menschlicher Hybris.

2015 wurde in Paris ein Theaterstück des italienischen Dramatikers Stefano Massini uraufgeführt, das alsbald in ganz Europa reüssierte. Sein Schock-Titel: „Lehman Brothers“. – Es spricht für die Findigkeit von Lars Georg Vogel, dem neuen, vielversprechenden Intendanten der Vaganten, „L.B.“ jetzt in die Hauptstadt geholt zu haben. Außerdem passt es bestens zu diesem seit mehr als 70 Jahren anspruchsvoll auf zeitgenössische Dramatik orientierten, öffentlich gestützten Privattheater.

Stefano Massini, Jahrgang 1975, künstlerischer Berater am Piccolo Teatro Mailand, gilt als einer der maßgeblichen neuen Autoren Italiens. Schon der vollständige Titel „Lehman Brothers. Aufstieg und Fall einer Dynastie“ zeigt an, es geht Massini in seinem opulenten, märchenhaft gestrickten Script von 250 (!) Seiten – Kompaktfassung vom Regisseur Lars Georg Vogel ‑ nicht sonderlich ums Ökonomische, nicht um den schier unglaublichen Wirtschaftskrimi, sondern um die schier ebenso unglaubliche Familiengeschichte der Lehmans über drei Generationen und eineinhalb Jahrhunderte hinweg. Zwar touchiert der Autor die Berührungen dieser Bank zur Geschichte des amerikanischen Kontinents wie der Welt, dennoch hätte die ansonsten starke, sonderlich im Schauspielerischen intensive Inszenierung dieser epochalen Familiensaga das Politische deutlicher akzentuieren können.

Wir sind im Jahr 1844, als drei Brüder eines jüdischen Viehhändlers im bayerischen Nest Rimpach auswandern, um im weiten südlichen Westen ihr gelobtes Land zu finden. Hayum, Mendel und Maier Lehmann, die sich nun Henry, Emanuel und Mayer Lehman nennen, können gut mit Zahlen, sind enorm kommunikativ, höchst intelligent, mutig, ehrgeizig, lernen schnell Englisch und starten in Alabama als Tuchhändler. Dort stricken sie ein weitverzweigtes Netzwerk im Baumwollhandel: Kaufen und mit hohen Profitraten Weiterverkaufen, so geht das. Doch allmählich rückt der Warenhandel zurück zugunsten des Geldhandels. Mit den Gewinnen wird über die Generationen hinweg investiert in Kaffee, Kohle, Erdöl, den Bau von Eisenbahnen und Autos, sogar in die Filmindustrie. Schließlich gründen Lehmans eine Bank und finanzieren so ziemlich alle, die Geld brauchen, darunter auch Regierungen, die Kriege führen. Grundsätzlich gilt das Motto: Nichts bringt mehr Geld als das Geld.

Philip Lehman, Emanuels Sohn, bringt das Familien-, Banker- und Spekulantenleben auf den Punkt: „Ich will das Leben nutzen. Mit einer Zahlenreihe vor dem Komma, nicht dahinter.“ – Freilich, gut Geldverdienen wollen alle. Und die letztlich unheilige Allianz von Geld und Gier treibt nicht nur Banker, nicht nur jüdische Banker um, sondern – mit Verlaub! – so gut wie jeden. Eine Tatsache, die der Autor in seinem geschickt als Parabel gebauten Stück, das zahlreiche Momente des speziell Jüdischen (Religion, Bräuche) enthält, nicht weiter diskutiert.

Immerhin, die Regie drängt religiöses Brauchtum weitgehend zurück. Sie stellt aber auch Stefano Massinis historischen Bilderbogen nicht sonderlich aus (Sklavenhandel, Sezessionskrieg, Börsencrash 1929, Zweiter Weltkrieg, Mc-Carthy-Ära, Vietnam). Sie rückt vielmehr die bloße Familienstory ins zeitlos Abstrakte; pointiert mithin den allgemeinmenschlichen Wahnwitz. Widerspricht also womöglich unsäglichen Assoziationen, allein „die Juden“ seien brutal profitgierig und stürzten letztlich die Welt ins Verderben. Übrigens, die Lehman-Family hatte längst alle ihre Anteile verkauft, als die Lehman-Bank in die Katastrophe und die Geldwelt ins Chaos stürzte.

Eigentlich steckt in dem Ganzen eine veritable Schauspieloper. Ein kleines Welttheater einschließlich saftiger Geschichtslektion. Aufs opulent Anschauliche (die Videoschnipsel von Stella Schimmele machen da nicht viel her) sowie aufs dezidiert Belehrende verzichtet – eigentlich schade ‑ Vogels minimalistische Inszenierung. Dafür triumphiert vitale Schauspielkunst! Das so virtuose wie präzise Herrentrio in Jeans und mit Cowboy-Hut – Andreas Klopp, Urs Stämpfli, Joachim Villegas – schlüpft in Windeseile (Tempo, Tempo!) in die verschiedensten Figuren der Lehman-Familie. Mitreißend, teils amüsant, teils erschreckend. So wirbelt – alles in allem – ein spannendes Spektakel.