23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Hitlers Ziege oder Die Hämorrhoiden des Königs“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters: „Stageless“ – Friedrichstadt Palast: „Die Orestie“ – Volksbühne

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Erst nach einer Stunde tritt Friedrich der Große auf. In Unterhosen und mit der Flöte fuchtelnd als fidel tänzelnde Schwuchtel. Um in der kommenden finalen Viertelstunde verzückt seine Angriffskriege aufzulisten sowie deren Nebenkosten: nämlich zehntausende Soldaten.

Doch damit kann er bei Hitler nicht punkten, der mehrere Millionen Menschen ermorden ließ. Dafür haut Fritze mit der Peitsche lustvoll auf Hitlers Hintern. Und schlägt ihn um astronomische Längen beim massenhaft sexuellen Männerverbrauch. Diesbezüglich nämlich ist der große Massenmörder Adolf ein bisschen genierlich …

Tja, munter geht’s zu in der Musical-Farce „Hitlers Ziege und die Hämorrhoiden des Königs“ von Rosa von Praunheim. Da werden detailreich die fatalen Folgen von Adolfs Genitalverstümmelung durch dessen Lieblingsziege Erika erörtert, samt seines Mamakomplexes sowie – trotz Erika – seine geradezu unheimliche Ausstrahlung auf Frauen und alle, die das Stramme bejubeln und versessen darauf sind, jeden Nicht-Jubler und Nicht-Heil-Brüller zu beseitigen. Parole „Alle erschießen!“ – Und da ist Klaus Vogelschiss von der AfD („Arschloch für Deutschland“) zur Stelle, der „auf alles scheißt“ (bevor er schießt?).

Außerdem geht es noch um Adolfs Verdauungsprobleme, ums Künstlertum (das er mit Friedrich teilt) von Malerei bis Komposition (ein grummelnder Wagner-Verschnitt wird eingespielt). Überwiegend aber geht es an diesem kruden Abend um den variantenreichen Gebrauch der Geschlechtsteile, um gut hörbar rumorendes Gedärm und um geile Kerle in Uniform oder ohne wie Klaus Vogelschiss, der unentwegt grölt „Wir machen Deutschland stark und groß“. Zwischendurch werden kabarettistisches Liedgut und Blasmusik gereicht und der beiden Herrscher kleinere bis ganz große Verbrechen spaßig aufgelistet.

Rosa von Praunheim, ein verdienter Aktivist der Schwulenbewegung, Autor zahlreicher, oft gewitzter Sachbücher zur Emanzipation nicht nur Homosexueller, kommt nach sage und schreibe 150 teils mutiger, oft enorm provokativer Filme nun ans Theater. Vor zwei Jahren feierte er – gleichfalls als Autor und als Regisseur – einen tollen Erfolg am Deutschen Theater mit einer schillernd grotesken Revue über sein Leben „Jeder Idiot hat eine Oma, nur ich nicht“.

Nun will er mit seiner Politfarce „Hitlers Ziege“ – ein gut gemeinter Aufschrei gegen den fatalen Rechtsruck nicht nur im Land der Nazitäter – deutsche Gewaltgeschichte als Kontinuum von Friedrich dem Großen bis hin zu Adolf Hitler assoziieren. Will mit schmissiger Musik (Heiner Bomhard) garnierte Aktualitäten satirisch aufspießen und die allgemeine Angst demonstrieren, „dass Menschen sich so schnell wieder starken Männern zuwenden“. – Gut gebrüllt Löwe! Doch wie soll bei all den zotigen Eiertänzen um Arsch, Penis, Pupse und Peitsche das uns Angst machende monströse Böse durchkommen?

Die beiden großartigen Sing-Schauspieler Heiner Bomhard und Bozidar Kocevski animieren zwar ein auf Amüsement gebürstetes Publikum mit grotesk-komödiantischen, kabarettistisch-musikalischen Bravourstückchen und mit ekligen Anstößigkeiten, doch der Autor-Regisseur lässt keine Denkanstöße zu. So bleibt niemandem das Kichern im Halse stecken. Gibt’s kein Erschrecken. Dafür Schenkelklopfen beim Ballaballa zweier Deppen, beim großen Verzwergen des Unheils.

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Hallo! Der Palast ist wieder offen! Zwar nicht der Riesensaal – dort geht es erst 2021 wieder los mit der „Vivid Grand Show“, dafür öffnet das große Foyer tagtäglich bis 29. November – bei freiem Eintritt von 11 bis 20 Uhr – für die gemeinsam mit der c/-Galerie organisierte Foto-Schau „Stageless“ des Fotografen Sven Marquardt.

Vielleicht hat es sich noch nicht überall herumgesprochen, dass Marquardt seit längerem schon als Fotokünstler reüssiert. Als Türsteher des Clubs Berghain avancierte er zu einer geradezu weltweit berühmten Persönlichkeit; umso erstaunlicher, dass der bullige Kerl mit den Wahnsinns-Tattoos am ganzen Schädel (und nicht nur dort), dass dieser Superstar der Club-Szene ein feinsinniger Mensch ist. Mit genauem Blick fürs perfekte Bild sowie ausgeprägtem ästhetischen Fingerspitzengefühl. Und fototechnischem Können.

Was ist zu sehen? Das Palast-Ballett. Aber nicht hoch gerüstet in Glanz, Gloria und Action auf der Welt größter Bühne, sondern in einem zum Fotostudio umgerüsteten Lastenaufzug Backstage. In Trainingsklamotten mit Resten von Kostüm und Maske. Marquardt konzentriert sich – es war im Herbst vor Corona – auf den Moment vor oder nach der alltäglichen Tortur beim Ballettmeister im Spiegelsaal der Exerzitien; zeigt die drei Dutzend Hochleistungssportler beim Aufbrausen oder Absinken ihrer Adrenalinspiegel im kalten Neonlicht des Fahrstuhlkäfigs. Das Ergebnis: Höchst unterschiedliche, enorm ausdrucksstarke Charakterskizzen. Alle in schwarz-weiß, grobkörnig, teils mit raffinierten Unschärfen, sehr plastisch. Gedruckt auf großformatige Industrieplanen entfalten sie eine suggestive Wirkung, die noch verstärkt wird durch ihre labyrinth-artige Hängung im abgedunkelten Foyer, das eine seltsam melancholische Grundstimmung erzeugt.

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„Ein gottverhasstes, götterhassendes Haus. / Ja! Mitwisser von vielerlei / Verwandtenmord, durchschnittene Kehlen – / ein Menschenschlachthaus, / und sein Boden schwimmt in Blut […].“

Das gottverhasste, götterhassende Haus gehört den Atriden, einem blutbefleckten mythischen Geschlecht. Und das Zitat gehört Aischylos, dem griechischen Autor der „Orestie“, die zu den fundamentalen abendländischen Großdichtungen zählt. An deren Ende hat Göttin Pallas Athene ihren die (antike) Welt erschütternden Auftritt: Sie beendet den archaisch-anarchischen Kreislauf von Gewalt, Schuld und Rache, in dem die Atriden-Sippe feststeckt, durch Einführung demokratischer Gerichtsbarkeit. Der menschenfressende Fluch der Furien ist aufgelöst.

Was für eine grandiose Vorlage für Chefregisseur Thorleifur Örn Arnarsson, der sich bereits zwei anderen Sagen-Stoffen zuwandte: der „Edda“ und „Odyssee“. – Weltliteratur für ein großes Welttheater am Rosa-Luxemburg-Platz, das ist – zumindest – gut und richtig gedacht. Dumm nur, dass es, wie zuletzt bei „Iphigenie“, nur wenig beglückend ausging. Doch darf man den Mut nicht sinken lassen. Erst recht nicht an diesem traditionsbeschwerten Monumental-Theater.

Nun denn, Arnarsson packt postdramatisch erregt den Stier bei den Hörnern und überschreibt „zeitgenössisch“ den tradierten Durch-Nacht-zum-Licht-Text in der Übersetzung von Peter Stein, dem unvergesslichen Großmeister des deutschen Theaters. Arnarsson inszeniert also mutig „nach Aischylos“, bleibt aber beim Wettlauf mit den Altvorderen hoffnungslos auf der Strecke. Anders gesagt: Er stürzt tief in die Falle eitler Besserwisserei. Dabei hätte er doch ganz einfach „von Aischylos/Stein“ inszenieren sollen, was zugegeben auch nicht ganz einfach ist.

Also ein neues Blut-Rache-und-Vergebung-Drama. Und das geht so: Thorleifur Örn lässt erst mal viel weg vom Originaltext und stattdessen ausführlich plaudern über die schwierigen Produktionsbedingungen in Corona-Zeiten sowie theaterästhetisch meditieren über angesagte Theoriediskurse bezüglich Repräsentation und Abstraktion auf der Bühne. Das alles verquickt er noch mit Albees Ehedrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“, mit einer verschwitzt bluttriefenden Gewaltszene, die permanent via Video präsent ist. Und das nur, damit Gatte George am Ende der elend länglichen 150-Minuten-Veranstaltung als Orest an die Rampe treten kann, um eine imaginäre Athene um Ent-Schuldung zu bitten. Bisschen billig, dieses Finale.

Ansonsten wird ein ermüdetes Publikum immer wieder aus dem Schlummer gerissen durch musikalische Einlagen von Pop bis Klassik, von Queen über Lohengrins Gralserzählung bis hin zu Elektras ekstatisch verzweifelten Rufen nach Agamemnon aus dem Operneinakter von Richard Strauss. Dazu das beständige Flackern von Zeichen aus dem überquellenden Fundus aktueller gesellschaftlicher Moden sowie politischer Betriebsamkeiten. Doch wer hat da noch Kraft zur Deutungssuche. Hat sich doch längst alles witzelnd aufgelöst in Dampf, Dunst und Donner.

Aufregend archaische Wucht, Erkenntnis, Schrecken und Schönheit – nix davon in diesem Rummel aus viel Gelaber und bisschen Leid. Was für eine Regression. Was für ein technisch hochgerüsteter Aufwand für ein Breitwandbühnen-Brimborium mit einem 12-köpfigen, bewundernswert hart rackernden Ensemble.