Es war die bayerische Voralpenlandschaft, die sie anzog. Das besondere Licht, die verhaltenen Farben, vom Braun der ausgedehnten Moore getönt. Der Blick nach Süden zu den Gipfeln des Wettersteingebirges. Und die Nähe und zugleich Ferne der kunstsinnigen Stadt München.
Marianne von Werefkin, in Russland gebürtige Malerin (1860–1938); ob ihrer herausragenden künstlerischen Fähigkeiten bereits in jungen Jahren mit dem Beinamen „Russischer Rembrandt“ bedacht. Die Familie, wohlhabend und bildungsoffen, ließ der Tochter eine Ausbildung bei Ilja Repin, dem Vertreter des russischen Realismus, zuteilwerden. Das prägte ihre frühen Arbeiten, die späterhin im Kontakt mit den bedeutendsten, zeitgenössischen Künstlern über impressionistische Einflüsse zum Expressionismus führten und die eigene Handschrift gewannen.
Im Jahr 1896 verließ die Werefkin gemeinsam mit Alexej von Jawlensky, dem Malerfreund, Russland. Nach Reisen durch verschiedene europäische Städte, nahmen beide in München Wohnung. Die Malerin, finanziell gut gestellt, unterhielt im Stadtteil Schwabing den „Roten Salon“. Eine Begegnungsstätte der modernen Kunstszene. Zu den Gästen gehörten, neben anderen: Stefan Zweig, Franz Marc, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, der Kunstkritiker und Choreograph Sergej Diagilev. Lebhafte Diskussionen über Sinn und Aufgaben der Kunst wurden geführt. Im Mittelpunkt stand die „Baronin“. Freigeist, Temperament, kluge Gedanken („Kunst, das sind Funken, die durch die Reibung des Individuums mit dem Leben entstehen.“).
Obgleich sie die künstlerische Aktivität aus persönlichen Gründen für geraume Zeit aufgab, so ist doch das Motivangebot in der neuen Umgebung vielgestaltig und herausfordernd. An föhnigen Tagen und bei klarer Luft sieht man von den Türmen der Stadt die langgestreckte Bergkette der Alpen. Ein grandioser Anblick. Marianne von Werefkin gibt nach. Und sie beginnt wieder zu malen. Der Ort ihrer Wahl wird, unter anderem, Murnau am Staffelsee, etwa 70 Kilometer südlich von München. – 1908 verbringen die Künstlerpaare Werefkin / Jawlensky und Kandinsky / Münter von Mitte August bis Ende September in Gemeinschaft einen Arbeitsaufenthalt in Murnau. – Die Künstlerin nimmt Ansichten des Städtchens und der Umgebung auf und taucht sie in die Stimmung der Landschaft.
Der „Abend in Murnau“ ist eigentlich eine Dämmerstunde. Die Häuser mit den dunklen Dächern schweigen. Berge liegen in blauem Licht. Am Himmel schwimmt ein blasser Sichelmond zwischen Schleierwolken. Nirgendwo ist ein Fenster erleuchtet. Das blaue Haus am Weg hat die Läden noch weit geöffnet. Ein Pferdewagen müht sich mit schwerer Last bergaufwärts. In der Stille hallt der Hufschlag. Um den schlanken, weißen Turm der Maria-Hilf-Kirche scharen sich die Häuser, dicht gedrängt, als suchten sie Schutz. – Ein Hauch von Melancholie durchzieht das Bild; vielleicht auch schon die frühherbstliche Kühle. – Beim Betrachten fröstelt man ein wenig und wünscht sich insgeheim einen „Morgen in Murnau“ dazu.
Das Werk trägt zwei Datierungen. Die Erklärung: Im Skizzenbuch der Malerin fand man, offensichtlich aus Anlass eines früheren Besuches im Jahr 1906, die Vorzeichnung des Motivs, die 1910 zur Vollendung des Gemäldes beitrug.
Marianne von Werefkin: „Abend in Murnau“, 1906/1910, Tempera auf Karton, 41×40,6 cm, Schlossmuseum Murnau.
Schlagwörter: Malerei, Marianne von Werefkin, Murnau, Renate Hoffmann