Der NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat im Zusammenhang mit der russischen Aggression gegen die Ukraine und den westlichen außergewöhnlichen Anstrengungen zur Existenzerhaltung dieses Landes, von dem man so lange kaum Notiz genommen hatte und dessen inneres Gefüge man nur marginal kennt, verkündet: „Eine starke und unabhängige Ukraine ist von entscheidender Bedeutung für die Stabilität des euro-atlantischen Raumes.“ Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens und korrespondiert schon gar nicht mit den Lehren aus dem Krieg in Afghanistan. Es geht nichts über das wichtigste Ziel, Russland unverzüglich zu einem akzeptablen und realistischen Frieden zu zwingen.
Die historischen Realitäten aus 1000 Jahren europäischer Geschichte besagen unmissverständlich, die Ukraine wird auch in Zukunft kein Garant euro-atlantischer Stabilität werden. Es ist trotz der Inflation von Experten aller Couleur in den Medien nicht einmal ersichtlich, wie der Krieg schnellstmöglich beendet werden kann und welche politischen Konstellationen daraus folgen werden.
Auf der Online-Plattform des „Petersburger Dialogs“ mit dem poetischen Namen „Karenina“ wurde jüngst die Frage erörtert: „Osteuropas Geschichte dekolonisieren, aber wie?“ Die Autoren konnten diese brennende Frage unserer Zeit auch nicht so richtig beantworten. Der höchst akademisch und fein ziseliert geratene Text offenbarte vielmehr, die Osteuropahistoriker aller Länder vereinen sich nach wie vor unter dem ratlosen Slogan der russischen Intellektuellen: „Was tun?“ Der nach dem Ende der Sowjetunion allseits beschworene Anbruch einer Zeitenwende auch in der erkenntnistheoretischen Morgendämmerung der Osteuropawissenschaften ist irgendwann schon in den Morgenstunden stecken geblieben. Solche Sätze, die heuer zu lesen sind, bestimmten die Debatten schon vor dreißig Jahren, als von dem Autokraten Putin noch keine Rede war: „Politische Bekenntnisse sind ebenso kein guter Ratgeber für die Wissenschaft. Würde die Osteuropäische Geschichte etwa der von postkolonialen Aktivisten oft erhobenen Forderung folgen und einseitig zugunsten der Marginalisierten oder der Opfer imperialer Aggression Partei ergreifen, riskierte sie den Rückfall in einen längst überwunden geglaubten Normativismus – und dieser ist gerade in der gegenwärtigen Lage vollkommen unnötig.“ Alles klar, so brillant und praxisnah, wie der Text formuliert ist?
Nein. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten an der Nahtstelle zweier Kulturen ein Schlachtfeld divergierender Großmachtinteressen Europas: Tatarenkriege, Kosakenkriege, Polnisch-Russische Kriege, Nordischer Krieg, Russisch-Türkische Kriege usw. usw. Niemals haben die Ukrainer aus den Gemetzeln in ihrer Heimat einen Gewinn erzielt! Sie blieben stets die Opfer großer Reiche und mächtiger Koalitionen. Der aktuelle politische Slogan „Demokratie gegen Diktatur“ zeugt von Geschichtsvergessenheit. Es ist immer nur darum gegangen, eigene Großmachtinteressen durchzusetzen und danach die verschobenen Kräfteverhältnisse im ewigen West-Ost-Konflikt zumindest soweit wieder in eine ausgewogene Ordnung zu bringen, in der jede Seite mit Kompromissen und ohne Gesichtsverlust frische Kräfte sammeln konnte – für den nächsten Waffengang. Bestes Beispiel ist der Krim-Krieg 1853/56. Wie der Krieg auch endet, Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden.
Aber wir haben ja zur Interpretation der komplizierten Vergangenheit in Europa immer noch das wegweisende und regulierende Wort der amerikanischen Freunde in atlantischer Solidarität. Erinnern wir uns an Leopold Haimson! Der 2010 verstorbene und in der westlichen Welt hofierte amerikanische Historiker, der über Jahrzehnte die sozialpolitischen Wurzeln der russischen Revolutionen erforscht hat, gab sofort nach dem Ende der Sowjetunion die programmatische Losung aus: Schluss mit der Sozialgeschichte, Schluss mit den Klassenkämpfen – das Individuum ist in die Geschichte zurückgekehrt!
Diese Weisheit erlaubt, zwei Protagonisten zu erwähnen, die nachhaltige ideologische Grundlagen für die „Begründung“ gegenseitiger Aggressionen formuliert haben. Da wäre der französische Reiseschriftsteller Marquis Astolphe de Custine und auf der anderen Seite der russische Lyriker und Diplomat Fjodor Tjutschew. Deren Thesen, formuliert im 19. Jahrhundert, sind heute aktueller als es nach der Weltenwende von 1989/91zu erwarten gewesen ist.
Anlass und Gegenstand der Streitereien ist ein umfangreicher, in Briefform abgefasster Reisebericht, den Custine unter dem prosaischen Titel „La Russie en 1839“ in Paris veröffentlicht hat. Darin wird das Imperium Zar Nikolais I. als ein finsteres, aber von glanzvollen Festen und Gottesdiensten überstrahltes Reich des Bösen portraitiert, als ein zivilisationsfremder Hort der Unfreiheit, der Korruption und Kulturlosigkeit. Hinter dessen europäischen Fassaden lauere die millionenfache Fratze des wilden Tataren . Das russische Regime hielt Custine ebenso wie die skandalöse Leibeigenschaft der Bauern für Erscheinungsformen eines halbasiatischen Despotismus, die russische Mentalität kam ihm zutiefst verlogen, unberechenbar und brutal vor. In der russischen Kunst, Literatur und Wissenschaft sah er lediglich Imitate europäischer Vorbilder. Selbst die Natur, das Klima, den geographischen Raum dieses weltweit grössten Landes betrachtete er als monströs, menschen- und kulturfeindlich. Für Russlands Nationaldichter Puschkin hatte Custine nur den Satz übrig: „Puschkin borgte sich seine Farben bei der jüngsten europäischen Schule.“ Auch in allen andern Künsten glaubte der Franzose triviale Nachahmungen westlicher Muster und Modelle zu erkennen. Aber: Custines Werk wurde zum europäischen Bestseller. Es traf den Nerv der westlichen Welt. Und bis heute arbeiten sich russische Schriftsteller wie Wjatscheslaw Pjezuch (Die neue Moskauer Philosophie) an Custine nach dem einfältigen Motto ab: Wie Du mir, so ich Dir.
Ach, würden sie doch besser dem Geist ihres Ahnherrn Fjodor Tjutschew folgen! Fjodor Tjutschew war einer der bedeutendsten russischen Lyriker des 19. Jahrhunderts. 1822 trat er in den diplomatischen Dienst ein und arbeitete viele Jahre in den russischen Gesandtschaften von München und Turin. 1844 avancierte er zum Gehilfen des russischen Reichskanzlers. 1857 übernahm er die Leitung eines Zensuramts. Obendrein übersetzte Tjutschew Werke Goethes, Schillers oder Heines in die russische Sprache. Schließlich stammt von Tjutschew das bekannte Bonmot: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Aber seine Leidenschaft für ein gütiges Miteinander Europas und Russlands erschöpfte sich nicht in geistvollen Bonmots. 1844 schrieb er den Aufsatz „Russland und Deutschland“, in dem er seinen Zeitgenossen Einsichten vermittelte, welche sich diese nicht hinter den Spiegel stecken mochten.
Tjutschew verwahrte sich gegen jede Art westeuropäischer Arroganz und Rechthaberei bei der Beurteilung Russlands: „Im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte war der europäische Westen so naiv zu glauben, dass es kein anderes Europa außer seinem eigenen geben könnte. Er wusste zwar, dass es jenseits seiner Grenzen noch Völker gab, die sich als christlich bezeichneten, auf dem Höhepunkt seiner Macht berührte er sogar diese Welt und verleibte sich einige Stückchen davon ein, um ihren nationalen Charakter zu entstellen und zu unterdrücken, doch dass in diesen endlosen Weiten ein anderes Europa, Osteuropa, die legitime Schwester des christlichen Westens, christlich wie er, zwar nicht feudal und hierarchisch, doch damit urchristlicher, dass dort eine ganze Welt, einheitlich in ihrem Ursprung, und solidarisch in ihren Teilen, existieren sollte, die ihr eigenes, natürliches Leben lebt – das konnte man nicht anerkennen, und viele zweifeln heute noch daran… Lange Zeit konnte man diesen Irrtum verzeihen, ganze Jahrhunderte war die schaffende Kraft im Chaos begraben, ihre Tätigkeit war langsam, fast unmerklich, ein dichter Dunstschleier verdeckte die Entstehung dieser Welt… Doch endlich hatte das Schicksal sich vollendet, die Hand des Riesen riss den Schleier herunter, und das Europa Karls des Großen sah sich von Angesicht zu Angesicht dem Europa Peters des Großen gegenüber!“
Tjutschew, der feinnervige Poet und charmante Schürzenjäger, schrieb keinen Leitartikel für das russische Regierungsblatt. Der nationale Patriot Tjutschew warnte den Westen, Russland und dessen Traditionen wie auch Ambitionen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu ignorieren: „[…] man muss nur anerkennen, dass Osteuropa, das schon zu drei Vierteln fest gefügt ist und das wahre Reich des Ostens bildet, für das das erste Imperium der byzantinischen Kaiser, der alten orthodoxen Selbstherrscher, nur eine schwache Vorahnung bietet, dass dieses Osteuropa seine letzte, wichtigste Ergänzung noch erhalten wird, sei es durch den natürlichen Gang der Dinge oder durch Waffengewalt, die die Welt in fürchterliches Unglück stürzen würde.“ Der natürliche Gang der Dinge – das konnte in der Diktion Tjutschews nur das friedliche Miteinander beider Europa unter Anerkennung der historisch gewachsenen Eigenart jedes seiner Teile sein.
Tjutschew beging lediglich einen gravierenden Denkfehler: Er glaubte ernsthaft, dass auch die Politiker und Militärs unter den Lesern sich der ethischen und philosophischen Logik seiner historisch begründeten Erkenntnisse nicht verschließen würden. Der Diplomat hätte es besser wissen müssen. Der Irrtum wurde bald sichtbar. Weder verzichtete Russland auf seine Bemühungen die Türkei zu unterwerfen, noch hielten die Westeuropäer inne, Russland aus der europäischen Politik zu verdrängen. Folglich brach neun Jahre nach Tjutschews Artikel der Krimkrieg aus. Er endete mit der vom Westen erstrebten und inszenierten Schwächung Russlands. Und eröffnete zugleich die furiose Aufholjagd einer zarischen und imperialistischen Großmacht, die im Ersten Weltkrieg unterging – wie das Deutsche Kaiserreich und die Donau-Monarchie.
Schlagwörter: Detlef Jena, Fjodor Tjutschew, Krimkrieg, Marquis Astolphe de Custine, Ukraine, West-Ost-Konflikt