Spätestens in diesem Dürresommer mit seinen einander ablösenden Hitzewellen, den verheerenden Waldbränden, nun auch bei uns, und andererseits Starkregen und Überflutungen in anderen Weltteilen sollte jede und jeder begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat. Es war ja nicht das erste Hitzejahr, sondern eines von vielen in Folge. Die Klimakatastrophe ist da und pfropft sich auf die vielen sonstigen Krisen auf.
Wenn man sich mit einzelnen Menschen unterhält, auch ganz unbekannten, und durchaus auch mit solchen aus „bildungsfernen Schichten“, ist dieses Wissen auch Allgemeingut, aber in Politik und veröffentlichter Meinung scheint es nicht angekommen zu sein. Da dominiert eher das Narrativ vom Kampf zwischen Gut und Böse, ausgedrückt als Widerspruch zwischen Demokratie und Autokratie. (Der „alte“ Grundwiderspruch, der in ferner Erinnerung doch irgendwas mit Eigentumsverhältnissen und Verteilung zu tun hatte, scheint überholt, und wer an ihn erinnert, stellt sich anscheinend automatisch auf Seite der Anti-Demokraten, der Autokraten, Diktatoren, Linken oder Rechten – igitt!) Aber die Hütte brennt; diese Erde wird für die Spezies Mensch in rasender Geschwindigkeit unlebbar. Anna Seghers hat einmal, in ganz anderem Zusammenhang und in einer anderen Zeit, in ihrem Roman „Das siebte Kreuz“, den schönen Satz geschrieben: „Was jetzt geschieht, geschieht uns.“
Zweimal in diesem Sommer habe ich bei katastrophalen Einzelereignissen in unserer näheren Umgebung, nämlich bei den Explosionen auf dem Sprengplatz und dem dadurch ausgelösten Brand im Berliner Grunewald und beim massenhaften Sterben der Fische in der Oder von klugen und reflektierten Menschen die Vermutung gehört, da könne doch „der Putin“ dahinter stecken. Dem und der russischen Führung ist sicher viel zuzutrauen, auch Aktionen, die man sich gar nicht vorstellen mag (den Angriff auf die Ukraine habe ich ja auch nicht für möglich gehalten), aber hier liegen keine entsprechenden Indizien vor. Es zeigt vielleicht eher die Furcht der Menschen und das Bestreben, einen Schuldigen benennen zu können. Womit wir wieder bei der Bekämpfung des Bösen wären. Nur: selbst die Vernichtung des Bösen in Gestalt der Mächtigen in den diversen Schurkenstaaten, die Befreiung der Menschheit mittels Durchsetzung der liberalen und marktkonformen Demokratie allerorts, ja selbst die Verdrängung der „alten weißen Männer“ aus Spitzenpositionen, würde uns nicht vor den Auswirkungen des Klimawandels retten, den wir als Spezies vielleicht nicht ausgelöst, aber zumindest enorm gefördert haben und weiter vorantreiben. Denn wir wären ja immer noch acht Milliarden oder dann (denn eine Befreiung der Welt dauert ja, mit aller Aufarbeitung und Umerziehung) vielleicht zehn Milliarden, die sich ernähren, kleiden, aber auch arbeiten, mit Billigfliegern in den Urlaub fliegen und Handel treiben wollen, und nach der Befreiung vermutlich alles in noch viel größerem Umfang als jetzt.
Geschrieben habe ich diese Erwägungen in einem Urlaub im Harz. Gleich nebenan, am Brocken, wurde ein Waldbrand bekämpft. Die Fichtenwälder sind faktisch ohnehin tot und ganz leicht entflammbar. Ich habe die Entwicklung dieser ökologischen Katastrophe über einen gewissen Zeitraum verfolgt: mit jedem trockenen Jahr wurde es schlimmer. Wer einen Blick in die Zukunft werfen will, sollte hierher fahren. Im Harz sind die Ursachen klar: Dürre, Borkenkäfer, Monokultur. Letztere wird auch klar als das Grundübel benannt und als vom Menschen gemacht. Und das sollten wir uns immer klar machen: wir, aber auch alle unsere Vorfahren, haben uns in diese schlimme jetzige Situation gebracht. Wir sollten erkennen, dass es die menschliche Aktivität war, der Wahn, sich zu mehren und die Erde untertan zu machen, die uns nicht nur unseren Wohlstand, sondern uns auch in eine Lage gebracht hat, in der selbst ein weitgehendes Aussterben der Menschheit als denkbare Perspektive erscheint.
Was mir auffällt: das Schweigen über die vermutlich folgenreichste Menschheitskatastrophe in dem daran wirklich reichen 20. Jahrhundert. Unendlich viel wurde nachgedacht und geschrieben über die Weltkriege, die Nazis und den Holocaust, die Hungersnöte in der Sowjetunion unter Stalin und in China unter Mao, den Kolonialismus, die Kriege in Südostasien und Nahost, die Völkermorde in Kambodscha oder Ruanda. Aber für den Bestand der Menschheit war vermutlich bei allem Grauen ihre schiere Vermehrung katastrophaler, trotz all dieser fürchterlichen Ereignisse.
Im Buch „Die Welt im Fieber“ von Laura Spinney, erschienen 2018 zum 100. Jahrestag des Ausbruchs der Spanischen Grippe, kann man eine Schätzung lesen, wonach sich ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung infiziert hätte, und zwar circa 500 Millionen Menschen (die Zahl der Verstorbenen könnte etwa 50 Millionen betragen haben, aber das würde eher in die Aufzählung der Katastrophen im 20. Jahrhundert passen, wird dort üblicherweise vergessen). Das hieße dann, von insgesamt 1,5 Milliarden Menschen vor gut 100 Jahren auszugehen. Und wie viele von uns gibt es heute? Die dann auch noch individuell, in Durchschnitt, weitaus mehr Naturressourcen verbrauchen als vor hundert Jahren.
Und es sind ja nicht nur „wir“. Parallel hat eine massenhafte Vermehrung unserer Nutz- und Haustiere stattgefunden, vom Rind in konventioneller oder meinetwegen auch artgerechter Haltung über das Pferd als beliebtem Freizeitpartner bis zum kleinen oder größeren Hund als Partner- oder Kindesersatz in der Stadtwohnung. All diese Tiere müssen ja auch was fressen, haben häufig einen hohen Flächenbedarf und belasten mit ihren Ausscheidungen die Umwelt.
Es ist in der Biologie gut bekannt, dass sich Arten enorm vermehren können, wenn sie optimale Lebensbedingungen vorfinden. Für die Menschheit war es wohl der Kapitalismus mit seiner ungebremsten Freisetzung von Kreativität und Geschäftssinn, der dank der Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Produktivität solche optimalen Bedingungen geschaffen hat. Die Beobachtung der Vermehrung trifft auch auf Schädlinge (etwa Heuschrecken, Ratten oder, wenn man Viren ins Reich des Lebendigen stecken möchte, SARS-CoV2) zu, und gegenüber der sonstigen, „nicht-menschlichen“ Natur ist unsere Spezies unbedingt als schädlich zu klassifizieren.
Wenn sich die Umweltbedingungen ändern, und das ist jetzt der Fall, bricht die so aufgeblähte Population zusammen. Das bedeutet manchmal, aber nicht immer, ihr Aussterben, eher einen starken Niedergang. Es ist naheliegend, dass die Menschheit diesen „Kippmoment“ erreicht hat. Das mag tragisch erscheinen, aber die Idee ewigen Wachstums ist doch ebenso monströs. Niemand weiß, wie sich dieser Niedergang vollziehen wird. Immerhin: es ist wahrscheinlich, dass größere Teile des Festlandes in naher Zukunft aus klimatischen Gründen nicht mehr bewohnbar oder schlicht überflutet sein werden. Die Menschen müssen irgendwohin ziehen, und Konflikte mit den Einheimischen werden kaum vermeidbar sein. Auseinandersetzungen wird es auch um die immer knapper werdenden Ressourcen geben. Echter Verzicht ist von den Menschen, die am meisten davon verbrauchen, aller Erfahrung nach nicht zu erwarten. Aufgrund der ungünstigen klimatischen Veränderungen und des Insektensterbens wird die Ernährungssituation heikler werden. Die perspektivisch immer enger zusammenlebenden Menschen sind ein perfektes „Futter“ für Mikroorganismen und Viren, so dass Ereignisse wie die Corona-Pandemie zum Alltag werden.
Ich halte es für illusorisch, diese Entwicklungen aufhalten zu wollen. Sie können bestenfalls für eine absehbare Zahl von Generationen in ihren katastrophalen Auswirkungen gemildert werden, vorausgesetzt, es gibt keinen nuklearen Weltkrieg und es gelingt, die Bevölkerungsentwicklung umzudrehen. Global muss dauerhaft die Geburtenrate unterhalb der Sterblichkeitsrate gehalten werden. Der dadurch verschärfte demographische Wandel sollte kein Schreckgespenst sein, sondern eine Herausforderung für einen altersgerechten Umbau unserer künstlichen Umwelt, der vermutlich weitgehend ein Rückbau sein dürfte. Eigentlich wäre eine Beschränkung der Reproduktionsrate auf ein Kind pro Frau sinnvoll, aber wie das in humaner Weise umgesetzt werden könnte, weiß wohl niemand. China und Indien sind damit gescheitert, und die Frauen waren die Leidtragenden. Was allerdings durchaus getan werden könnte, wäre eine starke Verminderung der Zahl der Tiere. Leider sehe ich keine politische Kraft, die sich ernsthaft und illusionslos diesen Aufgaben stellen würde oder auch nur bereit wäre, den Niedergang als wahrscheinliche Zukunftsperspektive anzuerkennen.
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