25. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2022

Nachdenken über Charles Cros

von Eberhard Görner

George Tabori hat in meinem 2001 für den ORF gedrehten Film „Der Schriftsteller als Fremder“ kategorisch festgestellt: „Das Buch ist heilig!“ Wir leben in einer Zeit des elektronischen Imperialismus: Computer und Handy ersetzen und verdrängen das Buch. Wer liest in diesen verkommenen Werbetempeln heute noch ein Gedicht von Heine oder gar von Goethe, dessen „Faust“ gerade aus dem bayerischen Lehrplan entsorgt wird!

Da grenzt es fast an ein Wunder, dass es im westfälischen Bielefeld-Jöllenbeck einen pensionierten Pastor gibt, der die berühmtesten französischen Dichter des 19. Jahrhunderts grandios in die deutsche Sprache übersetzt. Frank Stückemann hat dazu das Glück, im Aachener Rimbaud-Verlag auf hohem buchbinderischen Niveau verlegt zu werden, wie 2018 und 2021 mit seinen Übersetzungen zu Paul Verlaine „Gedichte I“ und „Gedichte II“ (französisch/deutsch). Ohne Zweifel ein verlegerisches Juwel, zu dem in diesem Jahr der lyrische Diamant „Das Sandelkästchen“ von Charles Cros im gleichen Verlag erschien. Beide Dichter, Verlaine und Cros, waren befreundet und verfeindet – aber beide sind in ihrer Sicht auf die Welt in unseren Tagen so modern, dass einem der Atem stockt.

Wer weiß schon, dass Charles Cros vor Edison das Modell für ein Grammophon erfand, dass er sowohl ein Dichter als auch ein unentwegter Erfinder war, ein Multitalent, das im Alter von nur 45 Jahren am 9. August 1888 in Paris verstarb und mit dessen Namen sich die Académie Charles Cros in Paris schmückt.

Cros wurde in den 90er Jahren schon einmal übersetzt. Der Romanist und Literaturkritiker Hans-Joachim Lope bestätigte seinerzeit, dass diese Erstübersetzung „durchweg den Ton des französischen Originals” traf. Aber es geht noch besser, wie der Cros-Experte Dieter Kranz die Übersetzungskunst Frank Stückemanns beschreibt: „Der Text folgt dem französischen Original inhaltlich und formal. Die Ausdrucksweise ist gegenüber der Erstfassung bodenständiger, an der Alltagssprache orientiert und eingängiger. Er liest sich einfacher, ist leichter verständlich und wirkt auf Grund seiner Bildlichkeit und seiner Musikalität deutlich nach.”

Wer wissen will, wie das Leben in Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Seine hinabfloss, muss „Das Sandelkästchen“ lesen. Stückemann erzählt in seinem Nachwort sehr ausführlich über die Bruder-Feindschaft Verlaine-Cros, in der es auch immer um die Rivalität in der Liebe ging, darüber, dass den Dichter Cros stets eine leere Geldbörse begleitete, er seinem dichterischen Programm aber konsequent die Treue hielt: „Da selten Ruhm aus Gold besteht, / Säet Lieder der Poet auf Erden, / Die immer auferstehen werden.“

Charles Cros‘ Gedichte sind geschrieben wie die Partitur einer Komposition, die sich melodisch aufteilt in die Akte Dauernde Lieder – Vergangenheit – Antwort – Dramen und Phantasien – Zwanzig Sonette – Salzkörner – Prosaphantasien. Viele seiner Gedichte besingen die Liebe, die Schönheit der Frauen, den Rausch der Pariser Nächte aus Tabak und Absinth und gleichzeitig die Sehnsucht, dieser Droge zu entsagen. Die Seele soll Heilung suchen in der Natur. Lässt man sich tiefer auf letzteres Kapitel ein, wird deutlich, wie Cros vom Reichtum der Natur überwältigt ist. Ihm sind die kleinsten Lebewesen wert in seinem dichterischen Wort, die helfen, die Ferne der Geliebten zu überwinden:

„Um sie soll mir kein Trennungsschmerz aufkeimen;
so gehe tagsüber ich in den Wald
Und suche ein Versteck zum Aufenthalt.
Zwei Schmetterlinge schwärmen unter Bäumen,
Gleich Hunden, die man an die Leine schnallt.
Ich strecke mich in zartem Gras. Es kreisen
Auf meinem Leib, ohne dass ich es spür,
Die Mücken, Weberknechte, Waldameisen.
Die Nachtigallen schlagen über mir.
ich denk’ an meine Liebste, die auf Reisen.“

Cros setzt in seinen Gedichten ganz bewusst Kontrapunkte, lässt beim Leser keine Illusion zu, wenn er in seinem Drama in drei Balladen an das erbärmliche Leben in der Großstadt denkt, die ihn magisch anzieht, obwohl er weiß, was ihn erwartet:

„Doch schmerzt der Pfeil, der mich traf, im Geheimen,
Wenn abends auf den Straßen Lärm erschallt,
Aus offenen Cafés das Gaslicht strahlt
Und Leiber sich obszön beim Tanz aufbäumen
Und Fleisch sich zeigt, Labsal für Würmer bald.
Vor Trübsal lasse ich in trauten Kreisen
Bei euch zuweilen durch das blonde Bier
Mich stumpf und stumm zur Trunkenheit hinreißen,
Und dabei singt und lacht und feiert ihr,
Ich denk’ an meine Liebste, die auf Reisen.“

In seinem Nachwort zitiert Frank Stückemann Cros‘ Schwester, die von ihrem Bruder wusste: „Charles Cros hatte die tröstende Überzeugung, dass eine in die Welt geworfene Idee sich niemals verliert und dass diese Idee eines fernen Tages seine Früchte bringen wird.“ Ich kann Stückemann nur zustimmen, wenn er feststellt, dass die Sprache von Charles Cros „gesund ist, einfach, ohne Neologismen und Archaismen. Sie bietet die Qualität einer klassischen Sprache, sozusagen mühelos in allen Epochen zeitgemäß.“ Ich wünsche dem Übersetzer Frank Stückemann und seinem mutigen Rimbaud-Verlag viele tausend Leser, denn es geht im real existierenden globalen Kapitalismus inzwischen nicht nur um die Verteidigung von Luft, um Wälder, Erde und Wasser. Es geht auch um die Verteidigung der Muttersprache, um die französische wie um die deutsche, die uns die Kostbarkeit der Schöpfung unserer Welt seelisch bewusst macht!

Charles Cros: Das Sandelkästchen / Le Coffret de santal. Gedichte und Prosa (deutsch/französisch). Übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Stückemann. Rimbaud Verlag, Aachen 2022, 390 Seiten, 48,00 Euro.