Unlängst fuhr ich an einer sprachlich rätselhaften Großwerbung vorüber und versuchte, sie zu entschlüsseln: „Schick wo du wohnst“ (oder so ähnlich). In ihrer verknappten Undeutlichkeit hatte sie zumindest eines bewirkt, sie ging mir nicht aus dem Sinn. Was verbarg sich dahinter? War es eine hingeworfene Verballhornung der allgemeinen Wohnverhältnisse? Sollte für einen Stadtbezirk mit besonderen Vorzügen geworben werden? Fehlte ein Zuordnungswort?
An der deutschen Sprache, überreich an Begriffen, Wortschöpfungen, Wortkombinationen und deren Bedeutung, kann es nicht gelegen haben. Den Nachweis führten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm bereits im 19. Jahrhundert mit ihrer Idee einer Bestandsaufnahme des deutschen Wortschatzes, „welcher sich in drei Jahrhunderten ausgebildet hat“: Das Deutsche Wörterbuch, von den Grimmbrüdern im Jahr 1838 begonnen und in steter Weiterentwicklung 1961 mit dem Band 32 beendet. Zehn Jahren später erschien der Band 33 mit den Quellennachweisen. – Staunenswerte Statistik: mehr als 320.000 Stichwörter auf 34.824 Seiten. Die Neugier auf das gewaltige Sprachmonument war geweckt.
Es grenzte allerdings an eine persönliche Lebensleistung, diese 34.824 Seiten durchzusehen. Das übernahm dankenswerterweise Peter Graf als Herausgeber einer Auswahl aus dem Grimmschen Wörterbuch; lust- und freudbetont zusammengetragen und in alphabetischer Ordnung (mit Ausnahme der Buchstaben X und Y) vorgestellt. Eine poetische, humorvolle, überraschende, nachdenklich stimmende, skurrile, wortgewinnende Blütenlese. Einige „kleinwinzige“ Beispiele daraus:
Anäugeln (verliebte Blicke tauschen) und Angstgezitter; Besuchameise (jemand, der von Besuch zu Besuch eilt), blitzhageldumm; charmieren (bezaubern); Dämelei (Gleichgültigkeit) und dritthimmelverzückt (überschwänglich); entfröhlichen (die Freude verderben), Empfindungsgrillen (Abwertung der Gefühle); Finanzenfresser (bestechlicher Richter), Faulbettchen (auf der Wiese liegen und träumen); Geistesverwilderung; Heißhöllenangst; Ichling (Egoist) und irrverworren und Jubelanfang; Köstchen (Imbiss) und kleinwinzig und Kurzdenker; lunzen (faulenzen); miseln (schäkern), Mißmensch (ein übler Mensch); Nachtigallengekose und Neinsilbigkeit (Schweigen); Ohrenfolter und Pamps und Quakelei (Geschwätz); rosmückicht (sommersprossig), racksen (sich abmühen); Schauernachtgeflüster und Schlickerfürzchen (flache Steine über das Wasser fitscheln lassen), Sprachsinnlosigkeit; Taggetöse, Ungedankenstrich und vollfaul; Wandelhirn (die Fahne nach dem Wind hängen), Weltbeglückung. Und Zukunftsvorgefühl. – Dieses wohl hatten die Grimms gleichermaßen, als sie das Jahrhundertwerk begannen, um vor uns Nachgeborenen Reichtum, Schönheit, Musikalität und Vielgestalt der Sprache auszubreiten.
Nunmehr lichten sich allmählich die Hintergründe der Außenwerbung. Der Textgestalter war vermutlich ein „Kurzdenker“, den Inhalt trübte eine „Geistesverwilderung“; und die Aussage erweckt insgesamt den Eindruck einer „Sprachsinnlosigkeit“. – Nachforschungen ergaben, dass eine Fußnote den Werbespot hätte ergänzen müssen: „Bring die Paketsendung zur Postannahmestelle um die Ecke deiner Wohnung. Dort wird sie sachgemäß verschickt“
Peter Graf (Hrsg): Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch, Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2019, 352 Seiten, 25,00 Euro.
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