Vermutlich hat jeder Bürger der DDR seit 1971 bis zu deren Ende eine oder mehrere Abbildungen von Thomas Müntzer besessen. Er war auf der Fünf-Mark-Banknote dargestellt. Doch von ihm gab es kein zeitgenössisches Porträt. Alle bekannten Bilder imaginieren, sind Trugbilder, Illusionen, Visionen, Utopien. Sie entsprechen der Kreativität der Nachgeborenen. Eines der frühesten Bilder, bezeichnender Weise aus einer Ketzergalerie stammend, ist der oft wiedergegebene Kupferstich von Christoph van Sichem. Er entstand 83 Jahre nach der Hinrichtung Müntzers im Fürstenlager vor den Toren der nun nicht mehr so Freien Reichsstadt Mühlhausen am 27. Mai 1525, einem Mittwoch im Frühling. Dieses Datum ist aktenkundig überliefert, wofür seine Widersacher sorgten. Neben Müntzer wurden sein Mühlhäuser Mitstreiter Heinrich Pfeiffer und fünfzig weitere Aufständische mit dem Schwert hingerichtet. Zur Abschreckung und Warnung für alle Zeiten wurden die toten Körper aufgespießt und zur Schau gestellt. Müntzers Tod bedeutete das Ende des Bauernkriegs in Thüringen, bald auch in ganz Deutschland. Doch sein Geist lebte zunächst fort als teuflische Obsession bei den Wittenberger Reformatoren und an den Höfen der Fürsten. Er lebte fort im Täufertum von Hans Hut und anderer, bis er verblasste.
Müntzers Geburtsdatum ist unbekannt. Er wurde vermutlich 1489 in Stolberg am Harz geboren. Friedrich Engels bezeichnete ihn in seiner Abhandlung „Der deutsche Bauernkrieg“ als dessen „großartigste Gestalt“, als Vorkämpfer für eine auf den Sturz der Macht des Adels gerichteten Volksrevolution. Er sieht den Bauernkrieg als Beleg für die revolutionären Traditionen des deutschen Volkes vor der bürgerlichen Revolution von 1848. Müntzers genaue Herkunft bleibt nebulös. „Sein Vater soll, ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen, am Galgen gestorben sein.“, so schreibt Engels. Die Engels’sche Behauptung wurde mit der Zeit in der marxistischen Geschichtsschreibung vermeintliche Gewissheit und ebenso in der hier beispielhaften literarischen Gestaltung von Müntzers Leben. Die in Stolberg seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesenen Namensträger gehörten überwiegend zur städtischen Oberschicht und standen in beruflicher Beziehung zum Grafenhaus. Die Eltern Müntzers sind bisher nicht identifiziert worden. Der Einfluss des sozialen Umfelds einer wohlhabenden Handwerkerfamilie (Münzmeister) auf seine Entwicklung ist nicht erkennbar. Wie Martin Luther auch stammte Thomas Müntzer aus einer von Bergbau und Hüttenwesen geprägten Harzgrafschaft. Beide heirateten übrigens eine ehemalige Nonne.
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1921 erschien Ernst Blochs Biographie „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“. Nach den revolutionären Ereignissen vom November 1918 und den folgenden Monaten beschrieb Bloch Münzer als Märtyrer und Hoffnungsträger im Klassenkampf, er wurde ein Karl Liebknecht der frühbürgerlichen Revolution und aus Luther der „Bluthund“ Gustav Noske. Ein Jahr später, inmitten der deutschen Hyperinflation vor 100 Jahren, veröffentlichte Max Dortu seinen „Roman“ über „Thomas Münzer“. Maximilian Dortu wurde 1849 in Preußen wegen seiner Beteiligung an der Revolution von 1848/49 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dass dieser Dortu es war, der die Bezeichnung „Kartätschenprinz“ für den späteren König und Kaiser Wilhelm I. einführte, mag zum Todesurteil beigetragen haben. Das Pseudonym Max Dortu benutzte Karl Neumann (1878–1935) sowohl im privaten als auch im literarischen Leben. Neumann war 1914 Kriegsdienstverweigerer und überzeugter Sozialist. Seine wenigen Bücher erschienen in Leipzig mit Titeln wie: „Großstadt“, „Klassenkampf“, „Männer vom Bau“, „Schlackenprinzessin“ und eben „Thomas Münzer“. Dortu ist dem expressionistischen Stil seiner Zeit stark verpflichtet. Der Autor steht ganz hinter seinem literarischen Helden Münzer. Er fühlt, kämpft und leidet regelrecht mit ihm und spricht durch ihn bis hin zu direkter Ansprache des Lesers. Dortu sieht sich als Alter Ego Münzers und Münzer als solches seiner selbst. Der Text ist in achtzehn in römische Schreibweise nummerierte Kapitel gegliedert. Das VIII. davon fehlt. Vielleicht ist es zwischen den vielen holzschnittartigen Bildern, den Ausrufen, den überquellenden Gedankenstrichen und Ausrufezeichen im Schwang der Gefühle verloren gegangen. Der Erzähler berichtet über Lebensstationen seines Helden. Dabei erfindet er eine Liebesgeschichte Münzers mit der Tochter des Grafen von Stolberg, spricht ihn direkt an („Münzer, du bist ein strafender Komet am nächtlichen Himmel der Menschheit.“), lässt ihn mit Luther ein Streitgespräch führen und Gottes Urteil lautet: „Luther – schlaf wohl! / Münzer – du lebst!!!“ Die sozialen Kämpfe werden religiös verbrämt. Am Ende ist Münzer in der „Freiheits-Dichtung“ Dortus das Fanal „zum großen Ziele – zur allmenschlichen Gemeinsamkeit – zum wahren und schönen Sozialismus!“
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Fast einhundert Jahre später greift der Franzose Éric Vuillard die Geschichte von Thomas Müntzer wiederum auf und beginnt seinen Text mit dem Satz: „Sein Vater war gehängt worden.“ Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren und unter anderem mit dem wichtigsten französischem Literaturpreis, dem Prix Goncourt, für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet. Das war 2017 für „Die Tagesordnung“ über den Pakt der Großindustrie mit Hitler und den Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich. Der Autor und Filmemacher benutzt ähnlich wie Stefan Zweig in den „Sternstunden der Menschheit“ bestimmte historische Zeitpunkte, um in konzentrierter Form die geschichtlichen Abläufe zu fiktionalisieren und novellenhaft neu zu erzählen. Sujets sind Buffalo Bill und der Wilde Westen, der 14. Juli 1789, der Erste Weltkrieg oder Thomas Müntzer in „Der Krieg der Armen“. Diese Erzählung wurde ohne Genrebezeichnung veröffentlicht. Ihr Umfang ist ähnlich knapp wie der „Roman“ Dortus, welcher eigentlich auch eine Erzählung ist. Vuillard geht mit den historischen Fakten noch freier als Dortu um. Er benennt nur wenige konkrete Daten, spannt aber einen weiten historischen Bogen von England mit John Wyclif, Wat Tyler und John Ball im 14. Jahrhundert, über Jack Cade im 15. Jahrhundert bis nach Böhmen zu Jan Hus. Hier knüpft er mit Müntzers Aufenthalt in Prag an. Er stellt ihn in eine große Ahnenreihe. In dem knappen Text holt Vuillard weit aus, um sich dann auf die letzten fünf Jahre Müntzers zu konzentrieren. Dabei erzählt er szenisch im historischen Präsens in soghaften, überwältigenden Bildern. Seine Darstellung Müntzers entstammt wie die Dortus aus marxistischer Tradition. So bezieht er sich zum Beispiel verbal auf Ernst Blochs Müntzerbiographie. Auch Vuillards Erzähler wechselt zum Ich: „Ich dränge mich nicht weiter in seine (Müntzers, J.H.) Gedanken; ich lasse sie ihm. Hier steht er nun vor uns…“ Beim Lesen hätte ich mir von Vuillard viel mehr Raum in seinem empfehlenswerten schmalen Büchlein über Müntzers Leben gewünscht und erwartet, dass er dessen Widersacher Luther nicht nur einmal am Rande erwähnt.
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Ja, die Urteile über Müntzer sind stark divergierend. Für die einen ist er der ruhelose Fanatiker, Prediger, Apokalyptiker oder Ketzer, für die anderen ein Streiter für Gerechtigkeit und soziale Gleichheit. Luthers apodiktische Verurteilung „Wohlan, wer den Müntzer gesehen hat, der mag sagen, er habe den Teufel leibhaftig gesehen in seinem höchsten Grimme. O, Herr Gott, wo solcher Geist in den Bauern auch ist, wie hoche Zeit ist’s, daß sie erwürget werden wie die tollen Hunde!“ auf der einen Seite steht andererseits eine sich auf Müntzer beziehende Tradition im Kampf für soziale Gerechtigkeit gegenüber. Thomas Müntzer gehört zu den bedeutendsten Reformern in der Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Mit seinem „Deutschen Kirchenamt“ („Ordnung vnd berechnunge des Teutschen ampts“) schuf er 1523 eine erneuerte Liturgie. Deutschsprachig sollte der Gottesdienst werden und die Gemeinde daran beteiligt. Müntzers theologische Reformen führten mit innerer Konsequenz in die sozialen Kämpfe seiner Zeit. Er wollte die Herrschaft Gottes auf Erden errichten helfen: „das volck wird frey werden und Got will allayn der herr daruber sein“. „Omnia sunt communia“ bekannte Müntzer im Verhör durch die Fürsten 1525. Nach dieser Maxime müsse gelebt werden: Alles gehört allen. Auf das nationale Jubiläum des Jahres 2017 „500 Jahre Reformation“ mit Martin Luther im Mittelpunkt folgt nunmehr im Jahre 2025 eine Thüringer Landesausstellung „500 Jahre Bauernkrieg: freiheyt 1525“. Das Blättchen 26/2018 berichtete bereits. Hauptort ist die von 1975 bis 1991 zeitweilige Thomas-Müntzer-Stadt Mühlhausen, heute Mühlhausen/Thüringen. Dort befindet sich auch der Sitz der 2001 begründeten Thomas-Müntzer-Gesellschaft.
Max Dortu: Thomas Münzer, Roman. Verlag Lothar Joachim, Leipzig 1922, 109 Seiten.
Éric Vuillard: Der Krieg der Armen. Aus dem Französischen von Nicola Denis, Matthes & Seitz, Berlin 2020, 64 Seiten, 16,00 Euro.
Schlagwörter: Éric Vuillard, Jürgen Hauschke, Max Dortu, Thomas Müntzer