Seit der Zerschlagung des Hitler-Regimes wurde die Erinnerung an den Holocaust zur Grundlage einer Politik universeller Menschenrechte, die dem Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus vorzubeugen sucht. Doch schwingen sich seit einigen Jahren gerade solche Kräfte zu Gralshütern der Erinnerung auf und führen mitleidvolle Gedenkphrasen im Mund, die eine antidemokratische, fremdenfeindliche und oft unausgesprochen auch antisemitische Politik betreiben. Dies war zunächst der Fall in den USA unter Donald Trump, und heute sind Wladimir Putins Rede von der „Entnazifizierung der Ukraine“ wie die antisemitische Agitation seines Außenministers Sergej Lawrow die jüngsten Beispiele. Solche Tendenzen sind aber auch in Ungarn, Polen, England, Frankreich, Österreich, Deutschland und selbst in Israel sichtbar.
In welchem Verhältnis stehen die Ritualisierung des Holocaust-Gedenkens und der internationale Aufstieg der radikalen Rechten zueinander? Mit welchen unterschiedlichen Strategien versucht diese, das Gedenken an den Völkermord zu kapern, was lässt sich dem entgegensetzen? Diese Fragen standen im Zentrum einer internationalen Konferenz mit dem Titel „Hijacking Memory“ (Die Geiselnahme der Erinnerung), die vom 9. bis zum 12. Juni im Berliner Haus der Kulturen der Welt stattfand. Organisiert wurde sie von den Direktorinnen des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und des Einstein Forums Potsdam, den Professorinnen Stefanie Schüler-Springorum und Susan Neiman, sowie der Autorin und Kulturmanagerin Emily Dische-Becker.
Für Deutschland war diese Fragestellung neu, und die 37 Referenten aus Europa, den USA und Israel widmeten sich ihr anhand der genannten Länder wie auch der Ukraine und Serbiens. So analysierte Jelena Subotic, einst Belgrad, jetzt Atlanta, in einer glänzenden Tour de Force die Strategien der Rechten auf dem Balkan, die einerseits die jüdischen Leiden gegenüber dem „Kommunismus“ und seinen Verbrechen herabbuchen, andererseits die jeweils „feindliche“ Volksgruppe, wie zum Beispiel spiegelverkehrt Serben und Kroaten, als die „eigentlichen“ Opfer präsentieren. Nikolai Koposov, früher Moskau, jetzt ebenfalls Atlanta, zeigte, wie das (so seine Worte) „faschistische Regime“ Putins jedes Gedenken selektiv missbraucht und dabei skrupellos antisemitische wie philosemitische Versatzstücke der eigenen großmachtchauvinistischen Ideologie einverleibt.
In einem souverän erzählten Überblick der (beinahe) Gesamtgeschichte des modernen Antisemitismus belegte Omer Bartov von der amerikanischen Brown University in Providence/Rhode Island, dass dieser auf vormoderne, religiöse, rassistisch-sozialdarwinistische wie auch unverstandene linke Denkmuster zugriff und weiter zugreift – in Frankreich anders als in Russland oder wiederum in Deutschland. Heute ist das Milieu der Rechten, etwa in der AfD oder dem französischen Rassemblement National, allerdings breiter aufgestellt als die klassische völkische Rechte und sucht teilweise auch nach Schnittmengen mit türkischen oder arabischen säkular-nationalistischen Organisationen und Gruppen – ein Punkt, der auf der Veranstaltung leider keine Rolle spielte. Ein vorerst kaum überwindbares Hindernis der Zusammenarbeit ist dabei die Tatsache, dass solche türkischen und arabischen Gruppierungen weiter mit offenem Judenhass punkten und auf eine „positive“ Vereinnahmung des Holocaust somit verzichten. Der aufgetragene Philosemitismus der „weißen“ Rechten in Europa und Nordamerika ist wiederum oft nur die Kehrseite des Hasses auf Muslime, die pauschal als Judenfeinde gebrandmarkt werden.
Ein Streitpunkt der Berliner Tagung war die Haltung zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS). Diese – jedenfalls in ihren extremen Teilen, die sich die Auslöschung Israels auf die Fahnen geschrieben haben – fordert nicht nur das (nachvollziehbare) Kontaktverbot zur rechtsradikalen israelischen Siedler-Bewegung in der Westbank, sondern propagiert darüber hinaus den wirtschaftlichen, kulturellen und akademischen Boykott aller israelischen Institutionen und in ihnen arbeitenden Israelis (oft sogar arabischen Israelis), unabhängig von deren politischer Haltung.. Daniel Cohn-Bendit betonte, man könne und müsse für die Rechte der Palästinenser auf einen eigenen Staat neben Israel eintreten, ohne sich mit der BDS-Bewegung gemein zu machen. Sein Widerpart Peter Beinart, einst Zionist und Verfechter der Invasion in den Irak, nunmehr Redakteur der antizionistischen New Yorker Zeitschrift Jewish Currents, sah hingegen in der BDS-Kampagne die letzte Möglichkeit, gewaltfrei auf Israel Druck auszuüben, um die festgefahrenen Zustände im Besatzungsregime zu ändern. Dass BDS intensive Kontakte zur Hamas und noch radikaleren Gruppen unterhält, die eine gewaltsame Beseitigung des jüdischen Staates anstreben, fiel dabei unter den Tisch.
Das Tagungsprogramm gab mit dem aus London angereisten Tareq Baconi auch einem militanten arabischen Vertreter der BDS-Bewegung ein Rederecht. Dies mag man verurteilen. Ich tue es jedoch nicht, denn nur die öffentliche Auseinandersetzung mit solchen Positionen erlaubt es, Klarheit in einer oft über-emotionalen Debatte zu gewinnen. Ebenso legitim war der scharfe Protest zweier Konferenzteilnehmer aus Polen gegen Baconis Positionen. Jan Grabowski, in Kanada lehrender renommierter Historiker und selbst Feindbild für die polnische Rechte, sowie Konstanty Gebert, Herausgeber einer jüdischen Zeitschrift in Warschau, waren nicht nur schockiert über die ins Antisemitische abgleitende Diktion Baconis, sondern mehr noch über den frenetischen Beifall, mit dem diese von einem Teil des Publikums begrüßt wurde. Anders als Gebert und Grabowski in einer Erklärung festhielten, kam der Beifall jedoch kaum aus deutscher Ecke, sondern eher von offenbar wohlhabenden, sich als „links“ verstehenden jungen jüdischen Menschen aus England und Amerika, die sich die teuren Flüge nach und Hotelkosten in Berlin leisten konnten. Dafür aber kann man kaum die Organisatorinnen der Tagung verantwortlich machen. Hierzu fällt einem nur Maxim Gorkis bitteres Wort ein, wonach der Jude von seinen eigenen Hunden und von fremden Kötern gejagt wird.
Es bedarf offenbar noch großer Aufklärungsarbeit, bis vor allem viele verblendete angelsächsische Linke begreifen: BDS ist eine kleinbürgerliche, gegenaufklärerische, antiuniversalistische Bewegung, die die progressiven Kräfte in völkische und antisemitische Enge zu treiben sucht. Die BDS-Agitatoren sind die befreundeten Feinde der Neuen Rechten. Noch immer und mehr denn je ist Jean Amérys Warnung aus dem Jahr 1969 aktuell, dass der Antisemitismus im Gewand des Antiimperialismus und Antikolonialismus eine vermeintlich ehrbare Gestalt angenommen hat.
Aber sogar Tareq Baconi unterzeichnete mit 23 anderen Konferenzteilnehmern (ohne Gebert und Grabowski) eine Erklärung, die betonte, „dass die rechte Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens dem Kampf gegen Antisemitismus – aber auch dem Kampf gegen Rassismus auf der ganzen Welt – schadet.“ Diese Erklärung erschien am 6. Juli in der Berliner Zeitung, die bis dahin dem Anliegen der Konferenz freundlich gegenüber gestanden hatte. Nur zwei Tage später war im Blatt Anderes zu lesen: Nun erschien in seiner Online-Ausgabe ein Gastbeitrag von Elio Adler unter dem Titel „Documenta und Co.: Judenhass muss nur hübsch verpackt werden, dann ist er in Deutschland okay“. Darin schmähte Adler die Organisatorinnen der Konferenz als geistige Verbündete der auf der Kasseler Documenta gezeigten antisemitischen Pseudo-Kunst. Nichts dergleichen gibt indes Anlass zu einer solchen Anklage. Stefanie Schüler-Springorum wie Susan Neiman und die von ihnen geleiteten Institute haben in Wort und Schrift durchgehend den Antisemitismus bekämpft. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung hat sich Susan Neiman im Vorfeld der Konferenz (nicht zum ersten Mal) von der BDS-Bewegung deutlich distanziert.
Ernster zu nehmen ist die Kritik von Daniel Botmann, dem Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, der davor warnte, die Ängste und Befürchtungen der in Deutschland lebenden Juden „in den Dunstkreis rechtspopulistischer Gesinnung zu stellen.“ Vertreter von postkolonialen Positionen versuchten, so Botmann, „den deutschen Erinnerungsdiskurs über die Schoa zu verschieben“ und damit letztlich „den Holocaust zu relativieren.“ Hier aber ist ihm scharf zu widersprechen: Nichts dergleichen lag in der Absicht der Organisatorinnen, und niemand relativierte auf der Konferenz den Völkermord an den Juden.
Es bedürfte mindestens eines weiteren Artikels, all die Angriffe aufzulisten, denen sich die Organisatorinnen der Berliner Tagung in den letzten Tagen ausgesetzt sahen. Wer den eigenen Kopf aber zum Denken benutzt, wird feststellen: Es sind nur vordergründig möglicherweise vermeidbare Fehler, die gegen sie ins Feld geführt werden. Der Kern der Angriffe, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, richtet sich gegen das, was sie richtiggemacht hatten, gegen das Anliegen der Konferenz: die Erinnerung an den industriell betriebenen Judenmord zu bewahren und ihn zugleich in den Zusammenhang von Rassismus, Sozialdarwinismus, Antikommunismus und Kolonialismus zu stellen, den die Rechte leugnet. Denn dieser Judenmord war Wahn und Kalkül zugleich, eine extreme Form imperialistischer Herrschaft, die den Juden das Lebensrecht nahm. Dabei aber ging es dem deutschen und europäischen Faschismus darum, die Weltgeschichte ganz unter seinen Stiefel zu nehmen; die Juden sollten das erste, aber nicht das letzte Opfer sein; den Slawen im europäischen Osten war ein vergleichbares Schicksal zugedacht. Und es sei, auch im Blick auf künftige Vorhaben und Konferenzen, daran erinnert: Bevor die Faschisten die Juden in die Gasöfen trieben, mussten sie die Arbeiterbewegung zerschlagen, die in all ihren Richtungen den Kampf gegen Antisemitismus als unabdingbaren Teil des Strebens nach einer besseren Gesellschaft begriff.
Zu den historischen Hintergründen des Themas erscheint von Mario Keßler demnächst bei VSA in Hamburg das Buch „Sozialisten gegen Antisemitismus. Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung (1844–1939)“.
Schlagwörter: Antisemitismus, Boycott, Divestment and Sanctions, Hijacking Memory, Holocaust, Juden, Mario Keßler, Palästinenser, Rechte