25. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2022

Der Stammgast in Salzburg: „Jedermann“

von Joachim Lange

Ein wenig wirkte Salzburg am Nachmittag der ersten „Jedermann“-Vorstellung der aktuellen Festspiele wie Paris, wenn man dort mit dem Nachtzug frühmorgens ankommt. Entspannt, noch nicht auf Touren, noch vergleichsweise leer. Die Gastronomen sind noch nicht wirklich im Festspielmodus. Wobei sie den in der Innenstadt auch im Sommer nicht mehr wirklich erreichen. Zu wenig Leute, zu schlechte Bezahlung hört man unter der Hand. Aber das wird sich finden. Sobald der Zug die Grenze passiert hat, fallen die Masken – auf dem Domplatz bleibt es bei der Empfehlung, die Intendant Markus Hinterhäuser selbst mit seiner sanften Stimme ausspricht. Die Wirkung ist begrenzt.

Dafür ist das Wetter für den ersten „Jedermann“ der Saison ideal. In den zwei Stunden von 21.00 bis 23.00 Uhr muss niemand der 2000 Besucher wirklich was überziehen. Die Edeldirndl und Lederhosen bestimmen den Dresscode beim traditionellen Herzstück der Festspiele: „Jedermann“ – das christliche Erbauungsstück. Der einzige, nie angetastete Programmpunkt der jetzt über 100jährigen Festspiele. Aber selbst der läuft seit Gerard Mortier nicht mehr völlig unberührt von den Modernisierungsambitionen. Er bleibt aber vor allem eine Laufsteg-Show für die Stars der Schauspielzunft deutscher Zunge.

Zu sehen ist die zweite Neuinszenierung von Michael Sturminger aus dem letzten Jahr. Auch da schon mit dem deutschen Schaubühnenstar Lars Eidinger im Zentrum. Der gibt ihn mittlerweile nicht nur mit narzistischem Esprit, sondern ist so in der Rolle angekommen, dass man ihm die Irritation über den Schatten des Todes und die berühmten Jedermann-Rufe, die nur er hört (und wir natürlich auch), sogar mitfühlend abnimmt. Sollte es sein tatsächlich sein letztes Jedermann-Jahr sein, wie man hört, wäre das schade. Das gleiche gilt für die Buhlschaft Verena Altenberger, die nicht nur sexy, sondern auch selbstbewusst ein vitales Pas des Deux mit ihrem Liebhaber tanzt…Wenn der Todeskandidat auf der Bretterbühne vor der Domfassade an einer langen Tafel der Frau Tod (Edith Clever meißelt jedes ihrer Worte unprätentiös in Stein, ach was: in Marmor!) gegenübersitzt, blitzen plötzlich die Bilder dieser Sitzordnung auf, die der Kreml und sein Herr in einer Mischung aus Arroganz und Lächerlichkeit der Welt lieferten, ohne dass das einer zusätzlichen Erklärung (oder irgendwelcher Fahnen) bedürfte.

Dieser Jedermann (als Stück und als Person) ist nicht nur was fürs christliche Gemüt, sondern auch für Freunde einer Schauspielkunst, die aus einer ziemlich verfestigten Tradition individuelle, hell leuchtende Funken zu schlagen vermag.

Natürlich werfen die Pandemie und der Krieg, der aus dem Osten kommt, ihre Schatten auch über diese Festspiele. Beim Umgang mit der Pandemie setzte man in Salzburg schon in den vergangenen beiden Corona-Sommern beherzt auf (Selbst-)Ermutigung – spielte trotz allem, und kann so jetzt an die dabei erlangte Routine anknüpfen. Markus Hinterhäuser muss allerdings den Wechsel von der routiniert erfahrenen Langzeitpräsidentin Helga Rabl-Stadler (26 Jahre!) zu ihrer Nachfolgerin Kristin Hammer quasi nebenbei vor allem nutzen, um mit dem großen Schatten des Krieges umzugehen. Der spiegelt sich an der Salzach im Versuch, vereinzelte Diskussionen, nicht zu einem Kulturkampf um russische Künstler und Sponsoren eskalieren zu lassen. Während sich für den erklärten Putin-Freund Valery Gergiev (gut nachvollziehbar) nirgends eine Stimme erhebt, die ihn zurück ruft, ist die Sache beim in Ungnade gefallenen jahrelangen Festspiel-Darling Anna Netrebko nicht so einfach. Sie hat sich zwar selbst zwischen alle Stühle manövriert, ringt aber mit sich und sucht einen irgendwie gearteten Neuanfang.

Ins Fadenkreuz eines sich moralisch lupenrein wähnenden Journalismus ist vor allem der gebürtige Grieche mit russischem Pass Teodor Currentzis geraten. Der Pult-Exzentriker, der auch als Künstler polarisiert, blieb bislang ein explizites Bekenntnis gegen den Krieg und Putin schuldig. Verhält sich also so, wie man es einem x-beliebigen Europäer nie vorwerfen würde.

Mit dem Chor seines russischen Ensembles MusicAeterna und dem Gustav Mahler Jugendorchester dirigierte er jetzt Schostakowitschs 13. Symphonie. Er steht auch am Pult von Romeo Castelluccis Doppelabend aus Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Carl Offs Oratorium „De temporum fine comoedia“ (Spiel vom Ende der Zeiten). Natürlich muss man hinschauen, welche politischen Implikationen der Finanzierung seines russischen Orchesters MusicAeterna es gibt. MusicAeterna wird vom halbstaatlichen Energiekonzern Gazprom wie von der auf der EU-Sanktionsliste stehenden VTB Bank maßgeblich finanziert. Der Eifer der Attacken freilich ist wohlfeiler Cancel Culture deutlich näher als verantwortungsvoller Abwägung. In einem ausführlichen Interview mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin Profil bezeichnet Hinterhäuser Cancel Culture als Ausdruck absoluter Kulturlosigkeit. „Es ist die Negierung der Kultur.“ Es wäre schade, wenn diese Debatte zur Begleitmusik der Festspiele würde, die bis zum 31. August 230.000 Karten an den Mann und die Frau bringen wollen. Obwohl es in diesem Jahr, neben dem Doppelabend, mit „Il Trittico“ (Christof Loy/ Franz Welser-Möst) und „Katja Kabanova“ (Barrie Kosky/Jakub Hrůša) nur noch zwei weitere Neuproduktionen geben wird, unterstreicht der randvolle Spielplan dennoch den Anspruch Salzburgs, das größte Opern-, Theater- und Konzertfestival der Welt zu sein. Mit den Wiederaufnahmen kommt man auf sieben Opern im Programm. Nur 27 Prozent des 67 Millionen Etats steuert die öffentliche Hand bei – der Rest muss über Verkauf, Sponsoring und ähnliches erwirtschaftet werden.