25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Wer kommt, wenn Wladimir Putin geht?

von Alexander Dubowy

Am 24. Mai gab der langjährige einflussreiche Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Nikolaj Patruschew, ein langes Interview gegenüber der meistgelesenen russischen Wochenzeitung Argumenty i Fakty. Dabei handelt es sich um das zweite längere Gespräch Patruschews mit einem führenden russischen staatsnahen Medium innerhalb nur eines Monats.

Dies ist umso verwunderlicher, als Patruschew bis Ende 2021 nur selten medial in Erscheinung trat. Auch die Gerüchte über seine mögliche Nachfolgerrolle an der Spitze des Kremls scheinen sich seit Wochen zu verdichten. Ob Letzteres tatsächlich stimmt, darf freilich angezweifelt werden. In Anbetracht seiner starken Medienpräsenz dürfte Patruschew für sich aber die Rolle des Chefdeuters und Ideologen des Ukraine-Krieges, welchen er als einen hybriden Stellvertreterkrieg gegen den Westen sieht, jedenfalls auserkoren haben.

Bereits in seinem Interview vom 26. April gegenüber der als Amtsblatt der russischen Regierung fungierenden Tageszeitung Rossijskaja gazeta wirft Patruschew den Vereinigten Staaten vor, ausnahmslos „alle tragischen Weltkrisen“ seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion verschuldet zu haben. Alle Weltkrisen seit Anfang der 1990er-Jahre seien auf die Bestrebungen der USA zurückzuführen, die Welthegemonie Washingtons beizubehalten, den „Zusammenbruch der unipolaren Weltordnung“ sowie das Aufkommen einer multipolaren Welt um jeden Preis zu verhindern.

Zur Erreichung dieser Zielsetzung haben die USA ein globales „Reich der Lügen“ errichtet. Weiter habe Washington wiederholt versucht, Russland dazu zu zwingen, „Souveränität, Identität, Kultur sowie eine unabhängige Außen- und Innenpolitik aufzugeben“. Lange vor dem „Staatsstreich im Jahr 2014“ haben die USA die Ukraine mit der Idee der „Exklusivität der ukrainischen Nation“ und dem „Hass auf alles Russische“ indoktriniert und das „Marionettenregime“ in Kiew als eine Plattform für den Aufbau eines Antipoden Moskaus, eines „Anti-Russlands“, instrumentalisiert.

Die Menschen in der Ukraine verbinde aktuell lediglich die „Angst vor den Gräueltaten der nationalistischen Bataillone“. Daher könne das Ergebnis der amerikanischen und europäischen Politik sowie des durch die Vereinigten Staaten kontrollierten Kiewer Regimes nur der „Zerfall der Ukraine in mehrere Staaten“ sein, so Patruschew.

In seinem jüngsten Interview mit der Wochenzeitung Argumenty i Fakty legt Nikolaj Patruschew argumentativ nach. Washington gebe zwar vor, weltweit für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu kämpfen, setze aber in Wirklichkeit die „Doktrin der Goldenen Milliarde“ um. Demnach könne nur eine begrenzte Anzahl von Menschen – vorwiegend in den USA und in Europa – Wohlstand erreichen.

Das Schicksal der anderen – so auch der Ukraine – bestehe darin, dieser Zielsetzung dienlich zu sein. Auch sei es gut möglich, dass das Coronavirus in den Labors des Pentagons mit Unterstützung von transnationalen Pharmakonzernen künstlich erzeugt werde. Die den Familien Clinton, Rockefeller, Soros und Biden nahestehenden Stiftungen haben daran mitgewirkt, so Patruschew.

Mit Blick auf das geplante Ende der sogenannten Spezialmilitäroperation in der Ukraine angesprochen, betont Patruschew, dass Moskau keine Zeitvorgaben machen werde. Vielmehr müsse der Nazismus in der Ukraine zu 100 Prozent ausgerottet werden, damit dieser nicht in wenigen Jahren zurückkehre. Auch habe Russland das Recht, vom „kriminellen Kiewer Regime“ und dessen unterstützenden Staaten Reparationszahlungen zu verlangen.

Im Gegensatz zu Washington habe Moskau niemals Terrormilizen unterstützt, sondern ausschließlich legitimen Regierungen in der Stunde der Not geholfen. So habe Russland beispielsweise den Vereinigten Staaten während des US-Bürgerkrieges geholfen, Frankreich beim Wiener Kongress vor der endgültigen Erniedrigung bewahrt und selbst nach 1945 die Auflösung Deutschlands in mehrere Teilstaaten verhindert.

Letztlich verdanken auch Polen und Finnland Russland ihre Staatlichkeit. Den Ausbau der militärischen Infrastruktur der Nato auf Finnland und Schweden (nicht aber den Nato-Beitritt per se) werde Russland als Bedrohung empfinden und sich zu – von Patruschew nicht näher bestimmten – Reaktionen gezwungen sehen.

Unter dem Druck des gegen Russland geführten hybriden Krieges gewinne patriotische Erziehung der Jugend massiv an Bedeutung. In diesem Zusammenhang seien nicht nur die Lehrkräfteausbildung zu reformieren, sondern auch höhere Budgetmittel für patriotische Filme und Kunst vorzusehen. Schließlich erscheine es ratsam, das Bologna-System aufzugeben und zu den „Erfahrungen des nationalen Bildungsmodells“ zurückzukehren, welches weltweit als „das beste System“ gelte, so Patruschew.

Mit diesen beiden Interviews gewährt Nikolaj Patruschew einen unverhüllten Blick in die kafkaesken – vom rational-objektiven Standpunkt – unergründlichen Untiefen der politisch-strategischen Erfahrungswelten sowie das Selbstbild des Kreml. Dabei legt Patruschew unbeabsichtigt die wahre Natur des selbstreflexiven geopolitischen Autismus Moskaus als eines durch Zerfallstrauma und Einkreisungsobsessionen sowie faktenwidrige Geschichtsinterpretation bestimmten primitiven Isolationismus offen. Dieser dient der überalternden russischen Führungsriege als pseudointellektuelles Fundament zur Rechtfertigung des wohl letzten imperialen Aufbäumens Russlands.

Über zwei Jahrzehnte galt Nikolaj Patruschew zwar als ein einflussreicher, jedoch stets klandestin und aus dem Hintergrund agierender Akteur. Auch nach seinem Wechsel von der Spitze des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in die Position des Sekretärs des Sicherheitsrates im Jahr 2008 war Patruschew alles andere als eine Medienperson.

Er meldete sich kaum zu Wort und gab sich selbst bei diesen seltenen medienöffentlichen Auftritten als überaus zurückhaltend und wortkarg. Umso überraschender wirkt die – mit der Intensivierung der Spannungen rund um die Ukraine Ende 2021 zusammengefallene – Regelmäßigkeit seiner Wortmeldungen und sogar längerer Interviews.

Die häufigen medienöffentlichen Auftritte Nikolaj Patruschews könnten natürlich mit den Gerüchten über seine Nachfolgerrolle an der Spitze des Kreml im Zusammenhang stehen. Seit Wochen wird darüber gemunkelt, dass Wladimir Putin aus gesundheitlichen Gründen den Posten des Präsidenten im Herbst zugunsten von Nikolaj Patruschew aufgeben könnte.

Eine unmittelbare Amtsübergabe ist gemäß der Verfassung der Russischen Föderation freilich nicht möglich. Für den Fall der vorzeitigen Beendigung der Amtsbefugnisse aus Gesundheitsgründen schreibt die Verfassung vorgezogene Präsidentschaftswahlen innerhalb von drei Monaten ab vorzeitiger Amtsbeendigung vor. Ansonsten hat in allen Fällen, in denen der Präsident der Russischen Föderation nicht in der Lage ist, seine Pflichten wahrzunehmen, der Regierungschef – Michail Mischustin – als geschäftsführender Präsident zu agieren.

Interessanterweise galt Nikolaj Patruschew bereits im Jahr 2006 – damals Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB – mit Blick auf die Wahlen 2008 neben dem Verteidigungsminister Sergej Iwanow und dem ersten stellvertretenden Regierungschef Dmitrij Medwedew als ein potenzieller Nachfolger Wladimir Putins im Amt des Präsidenten der Russischen Föderation.

Aufgrund seiner persönlichen Nähe zu Wladimir Putin, seinem beruflichen Werdegang im russischen Machtapparat und seiner machtpolitisch wichtigen Position als Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation ist Nikolaj Patruschew einer der einflussreichsten Vertreter der Elitengruppe der sogenannten Silowiki (Personen mit Geheimdienst-, Polizei- oder Militärhintergrund).

Die längste Zeit verfolgte Wladimir Putin gegenüber den Silowiki eine Politik des „Teile und herrsche“ mit der Zielsetzung, eine Konsolidierung dieser Elitengruppe rund um eine andere politische Figur als ihn selbst zu verhindern.

Selbst offen ausgetragene Konflikte innerhalb dieser heterogenen Gruppe (wie beispielsweise zwischen Inlandsgeheimdienst und Ermittlungskomitee) wurden vom Kreml geduldet, ja zeitweise bewusst gefördert. Zu groß erschien aus der Sicht des Kremls die Gefahr, die Führungsrolle und somit die Kontrolle über diese Gruppe an einen potenziellen Kronprinzen zu verlieren und eine Palastrevolte zu riskieren.

Aus diesem Grund war und bleibt ein Angehöriger der Silowiki als Premierminister nur schwer vorstellbar. Der Ukraine-Krieg dürfte auch in dieser Hinsicht die ursprünglichen Pläne des Kremls gehörig durcheinandergebracht haben. Im kriegsführenden Russland wächst die Bedeutung der Silowiki auch für das Überleben des Machtsystems Putin.

Im Falle eines erzwungen-freiwilligen Rückzuges Putins aus der Politik – zumal in Kriegszeiten und angesichts der Konfrontation mit dem Westen – ist wohl nur ein Nachfolger aus den Reihen der Silowiki denkbar. Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war Nikolaj Patruschew ein enger Wegbegleiter und Vertrauter Wladimir Putins. Ideologisch wird Patruschew innerhalb der russischen Führungsriege als ein ausgesprochener Hardliner eingeschätzt.

Auch dürfte der Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation eine der ganz wenigen Personen gewesen sein, welche in die Planungen des Ukraine-Krieges in einem sehr frühen Stadium eingeweiht wurde. So betonte Patruschew bereits im November 2021, dass die Ukraine „jeden Augenblick“ mit einer großen Krise konfrontiert werden könnte, welche „Millionen von Vertriebenen“ zur Folge hätte.

Angesichts der von Tag zu Tag ungehaltener und aggressiver werdenden Rhetorik der aktuell zentralen Gruppe innerhalb der russischen Führungsriege sollten die Gerüchte über einen baldigen Rückzug Wladimir Putins aus der russischen Politik nicht zwingend als ein Hoffnungs- und Friedensschimmer wahrgenommen werden.

Zum einen gab es über die vergangenen zwei Jahrzehnte unzählige Gerüchte über Wladimir Putins Gesundheitszustand, die sich allesamt als falsch oder jedenfalls letztlich als unbedeutend herausgestellt haben. Zum anderen können die Silowiki mit einem Hardliner Nikolaj Patruschew an der Spitze keinesfalls als glaubwürdige Vertreter einer diplomatischen Friedenslösung des Ukraine-Krieges betrachtet werden. Zumal gerade diese Gruppe seit Wochen ausdrücklich behauptet, in der Ukraine in einen hybriden Stellvertreterkrieg mit dem gesamten Westen verwickelt zu sein. Denn eine Niederlage ist nicht nur für Wladimir Putin keine Option.

Schließlich dürften die Silowiki repressiver als – durch persönliche, korporative und machtpolitische Überlegungen in seinen Handlungen gebundener – Putin gegen Kriegsgegner innerhalb der Eliten sowie der Bevölkerung vorgehen. Angesichts der Komplexität des russischen Machtsystems ist selbst das Extremszenario einer unkontrollierten Destabilisierung Russlands infolge von innerelitären Machtkämpfen und sozial motivierten Massenprotesten mit zumindest mittelbaren Auswirkungen auf die Sicherheitslage der EU keinesfalls auszuschließen.

Nach sehr treffender Anmerkung von einem der führenden Soziologen Russlands, Greg Yudin, mögen die aktuellen und die noch kommenden Ereignisse aus der Sicht der EU sowie des gesamten Westens eine Zeitenwende darstellen, für das uns bekannte Russland breche jedoch die Endzeit ein.

Berliner Zeitung, 28./29.05.2022.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.