25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Raus aus der Stadt

von Mathias Iven

Wo finden wir sie, die von der Sonne verwöhnten, geheimnisumwitterten und geschichtsträchtigen Orte, an denen die unsterblichen Werke der Weltliteratur entstanden? Auf dem Land, an der See oder doch in der Stadt? Jeder hat da seine eigene Vorstellung von Ruhe und einer schöpferischen Atmosphäre. Der Publizist Thomas Lardon nimmt uns in dem von ihm herausgegebenen, reich bebilderten Buch mit „auf eine Reise zu grünen Hütten, weißen Villen, versteckten Strandvillen, romantischen Gartenhäusern, noblen Ruinen“ und, und, und …

Da ist zum Beispiel Brechts Sommerhaus in Buckow, nicht zu verwechseln mit der von Helene Weigel bewohnten „Eisernen Villa“, dem heutigen Brecht-Weigel-Haus. Auftraggeber dieses vor dem Ersten Weltkrieg gebauten Hauses war der für seine Tierplastiken bekannte Jugendstil-Bildhauer Georg Roch. Brecht selbst bezog das unmittelbar daneben liegende, etwas größere und leider nicht zu besichtigende Gärtnerhaus. Als er die Häuser im Februar 1952 zum ersten Mal sah, vermerkte er in seinem Journal: „Mit Helli in Buckow in der Märkischen Schweiz Landhäuser angesehn. Finden auf schönem Grundstück am Wasser des Schermützelsees unter alten großen Bäumen ein altes, nicht unedel gebautes Häuschen mit einem andern, geräumigeren, aber ebenfalls einfachen Haus daneben, etwa 50 Schritte entfernt. Etwas der Art wäre erschwinglich, auch im Unterhalt. In das größere Haus könnte man Leute einladen.“

Oder werfen wir einen Blick auf das alte Pfarrhaus, das Christa und Gerhard Wolf im mecklenburgischen Woserin kauften und über Jahre hinweg Stück um Stück instand setzten. Welch organisatorische Anstrengung dahintersteckte, kann man heute nur noch schwer nachvollziehen. In ihrem Buch „Ein Tag im Jahr“ hat Christa Wolf unter dem Datum des 27. September 1989 dazu festgehalten: „Kein Material! sagten wir auch, als wir unser Haus vorführten, das wir seit fünf Jahren immerhin aus seiner Verrottung herausgehoben, es in einen passablen Zustand versetzt hatten, bewohnbar war es, sicherlich, und mehr als das: Ein Arbeits- und Ferienhaus […]. Oder sah man vor allem seine Mängel?“

Auch das künstlerische Multitalent Jean Cocteau gehörte zu denjenigen, die es aus der Stadt hinaus aufs Land zog. Wenn es ihm in seiner Pariser Wohnung zu eng wurde oder ihn die Verehrer unaufhörlich belagerten, entfloh er nach Milly-la-Fôret. In dem kleinen, südlich von Paris gelegenen Städtchen hatte er 1947 – „nach einer langen, langen Zeit des Wartens“ – endlich den passenden Rückzugsort gefunden: das aus dem 17. Jahrhundert stammende, ehemalige Maison du Gouverneur. Ende der fünfziger Jahre beauftragte man Cocteau mit der Neuausgestaltung der nur wenige Gehminuten von seinem Haus entfernt liegenden Chapelle Saint-Blaise des Simples. Als er im Oktober 1963 starb, wurde er zunächst auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt, doch bereits im April 1964 bettete man ihn in die Chapelle um.

„Village de Rimbaud“, so lautet der Zusatz auf dem Ortsschild der kleinen französischen Ardennen-Gemeinde Roche. Die Mutter von Arthur Rimbaud wurde dort geboren, er selbst kam im August 1873 in das Dorf. Im Elternhaus seiner Mutter beendete er das Manuskript von „Une Saison en Enfer (Eine Zeit in der Hölle)“ – Rimbaud war gerade einmal 19 Jahre alt. Zwar wurde das Buch gedruckt, doch es kam zu seinen Lebzeiten nie in den Handel; und er sollte auch nie mehr etwas schreiben. Im Sommer 2017 kaufte die Punk-Ikone Patti Smith das Haus. Über die Beweggründe gibt ihre Autobiographie „Just Kids“ Auskunft. Mitte der sechziger Jahre zog sie nach New York, wo sie anfangs nur schwer Anschluss fand und sich einsam fühlte. „Trost hatte ich bei Rimbaud gefunden, den ich mit sechzehn an einem Bücherstand gegenüber vom Busbahnhof in Philadelphia entdeckt hatte. Sein hochmütiger Blick vom Umschlag der Illuminationen [eine anlässlich des 150. Geburtstages herausgegebene Zusammenstellung von Rimbauds Gedichten – M. I.] begegnete meinem. Er besaß eine ehrfurchtslose Intelligenz, die etwas in mir entzündete, und ich nahm ihn sofort als Landsmann, als Verwandten, sogar als heimliche Liebe an.“

„Stenhällen“, das Sommerhaus von Astrid Lindgren, steht auf der in den Schären nahe Stockholm gelegenen Insel Furusund. 1940 hatten es die Eltern ihres Mannes als festen Wohnsitz für sich gekauft. Später verbrachten Astrid Lindgren, ihr Mann und ihre Kinder jeden Sommer hier, den Rest des Jahres lebte man in Stockholm. Privatsphäre war ihr da wie dort wichtig. Wer sich auf die Insel verirrte, suchte vergebens nach irgendeinem Hinweis auf das bis heute in Familienbesitz befindliche Haus.

Ganz anders sieht es in Nidden aus. Das ehemals Thomas Mann gehörende Haus ist das meistbesuchte Museum Litauens. Im Verlauf einer Reise nach Ostpreußen hielt er sich im August 1929 zum ersten Mal in dem Ort auf. Er und seine Frau, so erzählte er später in einem Vortrag, „waren so erfüllt von der Landschaft, daß wir beschlossen, dort Hütten zu bauen, wie es in der Bibel heißt“. Bezahlt mit dem Geld des Nobelpreises entstand ein schlichtes „Holzhaus mit Schilfdach und am blauen Giebel zwei gekreuzte Pferdeköpfe“, gelegen auf einer vierzig Meter hohen Düne über der Kurischen Nehrung. Von Mitte Juli bis Anfang September 1930 verbrachte das Ehepaar mit den drei schulpflichtigen Kindern Elisabeth, Monika und Michael dort den ersten Urlaub. Im Jahr darauf kehrte man zurück und auch im Sommer 1932 reiste die Familie an die Ostsee. Obwohl er hätte wiederkehren können: Thomas Mann kam nicht noch einmal zurück, offenbar – warum auch immer – schien das Interesse an dem Domizil in Nidden erloschen zu sein.

Der Großteil der von Thomas Lardon für diesen Band ausgewählten Feuilletons erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge haben sich nicht nur in Europa umgeschaut. Sie reisten auch in den Nahen Osten und nach Amerika. Fast drei Dutzend Örtlichkeiten werden mehr oder weniger ausführlich vorgestellt. Manchmal liegen sie weit abseits des Alltags, ein anderes Mal mitten im städtischen Getümmel. Alles in allem eine unterhaltsame und anregende Einladung nicht nur für Literaturliebhaber.

Thomas Lardon (Hg.): Die Sommerhäuser der Dichter. Wo die schönste Zeit des Jahres verbracht wurde – von Ausschweifungen, gelungenen Werken und einem ewigen Sternenhimmel, CORSO in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2022, 176 Seiten, 29,90 Euro.