25. Jahrgang | Nummer 12 | 6. Juni 2022

Oberländische Horrorshow

von Günter Hayn

Die Atmosphäre im gut gefüllten Saal des Bad Lobensteiner Kulturhauses gleicht der vor der Tür: aufgeheizt und schwül. Es knistert. Die am 19. Mai 2022 auf der Tagesordnung des Stadtrats stehende „Information zum Jahresabschluss 2021“ interessiert hier niemanden, obwohl die Stadt für den aktuellen Haushalt einen satten Fehlbetrag auszugleichen hat. Das geht zu Lasten des Personals, muss also zu Einschränkungen im Bürgerservice führen. Die Sache trifft somit jede und jeden. Im Verlaufe der Beratung stellt sich heraus, dass der Stadtkämmerer erkrankt ist und der Bürgermeister eigentlich nicht richtig Auskunft geben kann oder will. Der Kämmerer wurde allerdings im Foyer des Hauses gesichtet. Stadträte und Publikum nehmen es gelassen hin.

Gekommen ist man wegen TOP 8, das ist der „Antrag auf Abberufung des Bürgermeisters Thomas Weigelt – Beratung“ der Fraktionen LBL, CDU/FDP, BfL und DIE LINKE. Hier stecken bereits zwei Ungenauigkeiten drin: Der Stadtrat kann den Bürgermeister nicht abberufen, er kann allerdings ein Abwahlverfahren einleiten. Auch eine Beratung war nicht mehr möglich. Die fand 14 Tage vorher in geschlossener Sitzung statt. Am 19. Mai schweigen die Stadträte beharrlich. Demokratie lebt von Transparenz. Hinsichtlich des Unmuts dem parteilosen, direkt gewählten Bürgermeister Thomas Weigelt gegenüber ist man auf Vermutungen angewiesen.

Der Antrag macht zudem eines deutlich. Die traditionellen Parteien sind auch in Bad Lobenstein wie in vielen anderen Kommunen abgemeldet. CDU, FDP und LINKE kommen gerade einmal auf acht von zwanzig Sitze im Stadtrat. SPD und Grüne spielen überhaupt keine Rolle. Merkwürdigerweise taucht auch die AfD nicht auf, obwohl die sich mit der CDU de facto die politische Lufthoheit im Oberland teilt.

Die absolute Mehrheit haben Bürgerlisten und Freie Wähler: LBL, BfL und eine Vereinigung namens AUF!, die sich in ihrer Kommunikation auf die sozialen Netzwerke stützt. AUF! stellt derzeit auch den Stadtratvorsitzenden.

Zum Antrag selbst. Hintergrund des Unmuts der Stadträtinnen und Stadträte gegenüber dem Bürgermeister sind dessen öffentlich getätigte Äußerungen, zunächst veranlasst durch die deutsche Corona-Politik. Zu der hat Weigelt von Beginn an ein sehr eigenes Verhältnis. Als es im März 2020 Schritt für Schritt in den ersten Lockdown ging, begab sich der Bürgermeister mit zwei Freunden zum Skilaufen nach Tirol. In den Wirtshäusern des Oberlandes machte die Verblüffung der Herren über die leeren Pisten in Österreich die Runde … Die nach der Heimreise vorgeschriebene Quarantäne ignorierte Weigelt zwei Tage lang. Bad Lobenstein wurde überregional bekannt. Das vom Stadtrat beantragte Disziplinarverfahren – Weigelt hätte eigentlich den Hut nehmen müssen – verlief relativ folgenlos.

Statt dessen äußerte er sich erneut zur Pandemie-Politik. Natürlich nicht in der „Lügenpresse“. Am 16. Dezember 2021 wurde Weigelt vom Youtube-Kanal „Anni und Martin“ telefonisch interviewt. Hinter „Anni und Martin“ stecken der längere Zeit in rechts eingetrübten Gewässern gefischt habende Journalist Martin Lejeune und dessen Kollegin Anne Höhne. Inzwischen hat sich Lejeune offenbar von der Querdenker-Führung und der Reichsbürgerszene distanziert. O-Ton Thomas Weigelt: „[…] momentan bewegen wir uns ja […] in Deutschland in schwer diktatorischen Bereichen“. Damit nicht genug. Am 20. April veröffentlichte die Ostthüringer Zeitung (OTZ) einen Facebook-Screenshot mit einem Post des Bad Lobensteiner Bürgermeisters, in dem der die Preisexplosion nach dem 24. Februar 2022 kommentiert. Die Preise hätten nichts mit dem Krieg zu tun, „es st eine systematische Ausplünderung des Volkes durch die Regierung die ihr Volk aufgegeben und verraten hat“. Weigelt zählt weitere „Lügen“ auf: „[…] Mit der Corona Lüge ,der Lüge zum Russlandkrieg,der Energielüge,der Lüge zum Weltklima, der Demokratielügen….könnte [man? – G.H.] weitermachen“ (Tippfehler im Original – G.H.).

Damit war das Maß selbst für die Verhältnisse des Saale-Orla-Kreises voll. Die Rechtsaufsichtsbehörde des Landkreises sah sich zur Prüfung des Kommentars und möglicher dienstrechtlicher Konsequenzen veranlasst. Der Leiter der Behörde, so MDR THÜRINGEN, gehe aber davon aus, „dass es technisch kaum möglich sei, zu prüfen, ob der Post tatsächlich von Thomas Weigelt stammt“. Der hingegen kann sich „an eine solche Textpassage nicht erinnern“. CDU-Landrat Thomas Fügmann wiederum meint, dass solche Äußerungen „[…] eines Bürgermeisters einer wichtigen Stadt im Saale-Orla-Kreis absolut unwürdig“ seien.

Weigelt kann sich bürgerschaftlicher Unterstützung sicher sein. Wurden schon die „Corona-Spaziergänge“ in Bad Lobenstein mit einer für das freundliche Städtchen ungewohnten Verbissenheit exerziert, so haben er und der lokale harte Kern der seinerzeitigen Protestierer ein neues Thema gefunden: die bereits zitierte „Energielüge“. Aus einem vor Monaten versuchten „Seuchenparlament“ wurde ein sogenannter „Bürgertisch“, der per Anzeige im Amtsblatt Fragen zur Vorbereitung der Stadt auf den „großen Blackout“ gestellt hatte. Die Annoncenform war das Schlupfloch der hiesigen Wutbürger, weil die Rechtsaufsichtsbehörde inzwischen wegen mehrerer Verstöße gegen das Sachlichkeits- und Neutralitätsverbot die Vorlage des Bad Lobensteiner Amtsblattes vor der Veröffentlichung verlangt. Das betrifft aber bislang nur den redaktionellen Teil.

In der Bürgerfragestunde der Stadtratssitzung machte denn der „Bürgertisch“ – er postierte sich mit drei stattlichen Herren am Mikrofon – mit seiner „Blackout“-Annonce den Aufschlag. Dass sie keine Antwort erhalten würden, war den Herren klar. Aber sie beschworen „die Einigkeit der Bürger“. Beifall. Zwischenrufe „Der Bürgermeister muss bleiben!“ Beifall. Eine erregte Bürgerin beschwerte sich, dass ihre Aushänge vom Anschlagbrett der Stadt entfernt worden wären. Es folgten Forderungen nach dem Rücktritt des Stadtrates: „Sie sind vom Wähler beauftragt worden und nicht von schmierigen Provinzpolitikern!“ Tosender Beifall. Der Vorsitzende des Stadtrates, ein Vertreter der Freien Wähler, schritt nicht ein, obwohl man vorher an alle Besucher einen entsprechenden Ausdruck der Geschäftsordnung verteilt hatte.

Statt dessen stellte ein Bürger einen als Frage getarnten „Antrag“, den TOP 8 zu streichen. Beifall. Dem Antrag wurde natürlich nicht entsprochen, daraufhin gab ein Bürger eines Nachbarstädtchens – der Mann siedelte erst vor wenigen Jahren aus einer norddeutschen Großstadt in das stille Gebirgstal über und forscht an alternativen Antrieben – eine wiederum als Frage getarnte Erklärung ab: „Es ist seit zwei Jahren in Deutschland sehr gefährlich, unangenehme Fragen zu stellen.“ Heftiger Beifall.

Nach dem Abarbeiten der „restlichen“ Tagesordnungspunkte, für den Stadtetat interessierte sich niemand, nahm der Bürgermeister für seinen Bericht das Wort. Leutselig ergriff Weigelt das Saalmikrofon, stellte sich in unmittelbare Front zum Publikum – der Stadtrat bekam die Gnade einer eindrucksvollen Sicht auf das regierende Hinterteil – und hub an zu sprechen. Der Bericht war kurz und nichtssagend. Dann meinte Weigelt, etwas zum Abwahlbegehren sagen zu müssen. Artig bedankte er sich für das „zahlreiche Erscheinen und Interesse an einem bisher nie dagewesenen Vorgang“ – die letzten Wochen seien „aufgrund medialen Drucks kaum noch erträglich“ gewesen. Das ging gegen die OTZ, konkret deren Lokalredakteur Peter Hagen, der vom Bürgermeisterfanclub sofort angezischt wurde. Von den Protestierern hatte der Kollege sich vorab Hofberichterstattung vorwerfen lassen müssen … „Zweifelhafte Moral, seelische Folter, und Fehlinformationen wechselten einander ab“, so Weigelt weiter. Aber: „Ich vergebe allen.“ Im Falle seiner Abwahl könne er endlich wieder „ein freies Wort sprechen“. Prompt erhob sich der größte Teil des Publikums, spendete minutenlangen Beifall und ging meistenteils von der Bühne des Geschehens ab.

Der Rest war Formsache. Mit deutlicher Mehrheit (14 von 20) stimmte der Stadtrat für das Abwahlbegehren. Dessen Ausgang ist offen. Der Zorn auf die „schmierigen Provinzpolitiker“ hat den Siedepunkt noch nicht erreicht.

Man könnte das Ganze mit leichter Hand als Provinzposse abtun, wenn der Nährboden dieses Vorganges auf das Städtchen im Oberland beschränkt wäre. Das ist er aber nicht. Zweierlei wird deutlich: Die demokratischen Strukturen unseres Landes sind fragil und offenbar sehr leicht auszuhebeln. Ihre Anhänger geraten zunehmend in die Defensive. Und eine sehr lautstarke, gut vernetzte Minderheit versucht immer erfolgreicher, dem demokratisch artikulierten Willen der Mehrheit das Wasser abzugraben.

So beginnt Faschismus.