Wir fahren am Brenner auf die Südseite der Alpen und nähern uns dem ersten Ziel der Reise über den Jaufenpass. Hier liegt Anfang Mai der Schnee noch zwei Meter hoch, doch die kurvenreiche Straße ist frei. Durch das Passertal kommend erreichen wir Meran. Dort mündet die Passer in die Etsch, welche über Bozen und Trient weiter bis hin zur Adria fließt. Sie ist der zweitlängste Fluss Italiens.
Meran hat gut vierzigtausend Einwohner. Eine knappe Mehrheit von ihnen spricht deutsch als Muttersprache, in den umliegenden Dörfern Südtirols ist es die große Mehrheit. Wir beziehen unser Quartier in Marling direkt westlich der Etsch, wo Wein- und Apfelanbau das Bild beherrschen. Von dort blicken wir auf Meran, in einem Talkessel gelegen. Der – von oben schauend – das Stadtbild prominent tangierende berühmte Pferderennplatz befindet sich in der Blickachse.
Wir wollen wandern, haben von den Waalwegen gehört. Also gleich hinauf zum naheliegenden und bekanntesten, vielleicht schönsten und sicher längsten von ihnen: zum Marlinger Waalweg. Die Waale erinnern uns an die Levadas auf Madeira. Allerdings existieren in Südtirol nur noch 200 Kilometer davon. Zu verdanken haben wir unseren Waal den Kartäusern, die ihre Weinberge gut bewässern wollten. Die Mönche ließen im 18. Jahrhundert den je circa 50 Zentimeter breiten und tiefen Kanal mit einem daneben liegenden schmalen Arbeitsweg zwischen den Dörfern Töll und Lana bauen. Er schlängelt sich über zwölf Kilometer an den Bergrücken entlang. Nun, der Bau dauerte 19 Jahre, war viermal teurer als geplant, hatte sich aber für die Mönche gleichwohl gelohnt. Wasser wurde zu Wein. Noch heute dient er der Bewässerung und vor allem als herrlicher Weg vorbei an Weinbergen, Apfelwiesen, Oliven- und Kastanienbäumen und im Wechselspiel durch schattenspendende Wälder, erlaubt eine weite Sicht in den Meraner Talkessel und auf die Texelgruppe. An schönen Tagen kann es schon mal eng werden auf dem schmalen Weg. Das Wasser der Etsch plätschert derweil munter und fließt im Waal kaum merklich bergab. Wir Wanderer finden Labsal in den Berggasthöfen oder einem typischen Buschenschank auf dem Weg und bewundern die Bewässerungstechnik der Mönche.
Im 12. Jahrhundert wurde Meran Mittelpunkt der Grafschaft Tirol. Als 1363 die Fürstin Margarethe das Fürstentum den Habsburgern übergab, endete bald die einhundertjährige Zeit als mächtige Hauptstadt Tirols. Um 1420 wurde die Residenz nach Innsbruck verlegt.
Erst ein halbes Jahrtausend später gewann Meran wieder an Bedeutung zurück, als die Meraner Kurverwaltung von der Wiener Regierung bestätigt wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Ort aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Die vornehme Gesellschaft hatte Meran als Kurort entdeckt. Die Hautevolee kam zu Trauben-, Milch- und Molkekuren. Erzherzog Franz Joseph, der spätere Kaiser, wurde Kurgast. Der Hof folgte seiner Majestät und der Geldadel zog nach. Schließlich kurte selbst Kaiserin Sissi mehrmals in Meran. Das Kurhaus mit dem großen Kursaal an der Passer, erbaut in den 1870er Jahren, wurde 1914 als prachtvoller Jugendstilbau restauriert. Ein moderner, architektonisch gelungener Kontrast dazu ist seit 2005 die gegenüberliegende Therme Meran. In der Altstadt besticht die Laubengasse mit ihren Bogengängen, den Wasserlauben und den Berglauben, als Hauptgeschäftsstraße. Berühmt ist Meran auch für seine Promenaden, die sich links und rechts der Passer und an den Hängen des Küchelbergs entlangziehen: Kur-, Sommer- und Winterpromenade. Am Steinernen Steg, einer alten zweibögigen Brücke über die Passer, beginnt die Gilfpromenade, die zum Tappeinerweg führt.
Doch wir spazieren zunächst auf dem Sissiweg, folgen den Spuren der Kaiserin Elisabeth von Österreich. Er verbindet das Stadtzentrum mit dem Schloss Trauttmansdorff. Dort buchen wir nicht das erhabene „Frühstück bei Sissi“, sondern wir wollen die botanischen Gärten besuchen, wo in über 80 Gartenlandschaften Pflanzen aus aller Welt am sonnenverwöhnten Hang eines natürlichen Amphitheaters im mediterranen Klima gedeihen. Besonders die Waldgärten und die Sonnengärten haben es uns angetan. Beeindruckend sind – nur beispielhaft – die blühenden Rhododendren und ein über 700 Jahre alter Olivenbaum. Die Gärten erhielten viele nationale und internationale Auszeichnungen und sind auf jeden Fall eine Reise wert.
An einem anderen Tag geht es die Gilfpromenade hinauf zum Tappeinerweg. Der italienische Künstler Marco Nereo Rotelli verzierte die Sitzbänke mit eingebrannten Gedichtauszügen bekannter deutsch- und italienischsprachiger Dichter und schuf so eine Promenade der Poesie von Morgenstern und Rilke bis zu Conte und Manfredi. Benannt nach dem Kurarzt, Anthropologen und Botaniker Franz Tappeiner, führt der Höhenweg uns zumeist eben über vier Kilometer nach Gratsch, nun auf der östlichen Seite des Meraner Talkessels. Die Ausblicke auf Meran, ins Tal und bis hin nach Marling hinüber sind begeisternd. Mediterrane Sträucher und Bäume, selbst Kakteen und Agaven tragen zum südländischen Flair bei. Der Weg scheint noch begangener als der Waalweg. Gut, dass er auch etwas breiter ist. Unterwegs stärken wir uns mit typischen Tiroler Gerichten wie Speck- und Marillenknödel oder Apfelstrudel. Entlang des Weges finden sich verschiedene Einkehrmöglichkeiten wie das „Knödelglück“. Zurück in Meran an der Winterpromenade unter der Wandelhalle mit dem Jugendstildach lockt noch eine von etwa 40 Kaffeevariationen, ich entscheide mich für Maria Theresia. Die Wiener Cafékultur lebt hier noch.
Ein weiterer Tag führt uns zu den Ursprüngen Tirols – zum Dorf Tirol oberhalb Merans. Dort besuchen wir das Stammschloss des Hauses Tirol, des Namensgebers für das österreichische Kronland Tirol. Hier ist heute das interessante Südtiroler Landesmuseum für Kultur- und Landesgeschichte eingerichtet. Der Besucher findet neben der Geschichte Tirols und des Schlosses auch verschiedene Sonderausstellungen.
Angetan hat mich besonders der Bergfried. Als „Turm der Erinnerungen“ dient er der Darstellung der Geschichte Tirols von 1909 (als die Landesfeier zum 100. Jahrestag des Aufstandes der Tiroler gegen Napoleon unter Andreas Hofer, „Ober-Commandant in Tyrol“, stattfand) bis zum Jahr 2014. Die Ausstellung auf zwanzig Ebenen im Bergfried lebt von vielen Archivalien, gegenständlichen, bildlichen und mündlichen Zeugnissen der wechselvollen Geschichte. So wird beschrieben, wie das Ende des Ersten Weltkrieges zum Zerfall der multinationalen k. u. k. Monarchie und schließlich zum Beginn der Teilung Tirols führte. Italien besetzte zunächst ganz Tirol. Die 1918 neu entstandene Republik Deutschösterreich, zu der Tirol gehörte, sah sich in seiner Verfassung als Bestandteil der Deutschen Republik. Die überwältigende Mehrheit der Bürger stimmte dem zu. Die alliierten Siegermächte jedoch ließen den geplanten Zusammenschluss mit der Weimarer Republik nicht zu. Das vom US-Präsidenten Woodrow Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker galt nicht für die Unterlegenen des Krieges. Am 10. September 1919 kam es schließlich zur Unterzeichnung des Vertrags von Saint Germain: Die Republik Österreich wird konstituiert, das Kronland Tirol wird geteilt, der größere Teil fällt an das Königreich Italien. Als Grenze gilt die geographische Scheidelinie am Alpenhauptkamm.
Mit der Machtergreifung der Faschisten in Italien verstärkt sich ab 1922 der Druck auf die deutschen Südtiroler. Das vom italienischen Geographen Ettore Tolomei, einem Nationalisten und Anhänger des Irredentismus, ausgearbeitete Programm zur raschen und vollkommenen Italianisierung wird weitgehend durchgesetzt: alleinige Amtssprache Italienisch, Umbenennung aller geographischen Namen, Verbot des Deutschunterrichts und des Namens Tirol, Einsetzung italienischer Amtsbürgermeister.
So wird beispielhaft später aus der oben erwähnten ältesten Brücke Merans, dem Steinernen Steg, eine Ponte Romano. Südtirol wird in Italien als Alto Adige (Oberetsch) bezeichnet. Es kommt aber noch schlimmer, 1939 einigen sich Hitler und Mussolini auf eine Umsiedlung der Südtiroler „heim“ ins deutsche Reich. Die Menschen müssen sich entscheiden, wer für Deutschland optiert muss auswandern, das Schicksal der anderen bleibt ungewiss. Der Gegensatz zwischen „Optanten“ und „Dableibern“ spaltet Familien und Nachbarschaften. Etwa 75.000 deutsche Südtiroler verlassen tatsächlich ihre Heimat. Der Zweite Weltkrieg verhindert dann die weitere „Umsiedlung“. Nach dem Sturz der faschistischen Diktatur in Italien verbessert sich die Situation schrittweise. Jahrzehntelang wird für eine Autonomie gekämpft, nicht nur friedlich, auch Sprengstoffanschläge verschärfen die Beziehungen zum italienischen Staat. 1972 wird die Autonome Provinz Bozen-Südtirol gegründet, aber es dauert noch bis 1992, bis das vereinbarte „Paket“ zwischen Italien, Österreich und den Vertretern Südtirols erfüllt ist. Die autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trient sowie das (österreichische) Land Tirol finden auf dem Weg zur Europaregion neue Formen der Zusammenarbeit. 2001 wird erstmals der Name „Südtirol“ in der italienischen Verfassung verankert.
Wir nehmen Abschied vom bezaubernden Meran und seiner schönen Umgebung und hoffen darauf, dass sich auch in anderen Regionen Europas Wege finden mögen, nationale und nationalistische Grenzen zu überwinden, selbst wenn es sehr lange dauern kann.
Schlagwörter: Italien, Jürgen Hauschke, Meran, Österreich, Tirol