25. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2022

Grotesk-bizarre Geschichten – erzählt mit sprühender Phantasie

von Klaus Hammer

Seine sieben letzten Lebensjahre – 1815 bis 1822 – verbrachte er in einer komfortablen Wohnung am Berliner Gendarmenmarkt. Auf einer skurrilen Stadtplan-Skizze – als „Kunzischer Riss“ wurde sie später bezeichnet – hat der „Gespenster-Hoffmann“, wie er in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts genannt wurde, dem Bamberger Freund und Verleger Kunz 1815 seine neue Wohngegend vorgestellt. Dabei geht ihm die Phantasie durch. Er schaut über das Gewirr von Straßen und Plätzen, erblickt erfundene wie reale Gestalten, Figuren auch aus seiner eigenen Dichtung – der Zeichner wird zum Erzähler wirklicher wie unwirklicher Begebenheiten und Geschichten.

Da streckt aus dem Fenster seines Arbeitszimmers E.T.A. Hoffmann seinen Kopf heraus und bläst eine Qualmwolke in Richtung seines Freundes und liebsten Zechkumpans, des Schauspielers Ludwig Devrient, der gleich nebenan wohnte. Auf dem Gendarmenmarkt tratschen ihre Waren feilhaltende Gemüseweiber. Von der Taubenstraße nähert sich ein Gefährt mit dem Baron Fouqué, dem Verfasser des „Undine“-Märchens, das Hoffmann vertonte und das als Oper ein Jahr später im Nationaltheater am Gendarmenmarkt uraufgeführt wurde. Ganz rechts oben verrichtet ein „Anonymus“ mit herabgelassener Hose sein Geschäft vor dem Kammergericht, in dem Hoffmann lustlos, aber gewissenhaft seinen Amtsgeschäften nachging. Weiter links sieht man drei andere Romantiker-Kollegen, Clemens Brentano, Ludwig Tieck und August Ferdinand Bernhardi, die Markgrafenstraße entlang gehend. Unter den Gestalten links kann man zwei Figuren aus Hoffmanns Berliner Erzählung „Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“ ausmachen, und zwar an der Ecke Jägerstraße, wo sich einer ihrer Schauplätze, die Kellerkneipe, befindet, in der die Figuren sich begegnen: Peter Schlemihl, den Hoffmann aus der gleichnamigen Erzählung seines Freundes Adelbert von Chamisso entlehnt hat, und Spikher, der ebenfalls einen Identitätsverlust erlitt. Den verlorenen Schatten des einen und das Spiegelbild des anderen benutzt der Teufel, um ihrer Seele habhaft zu werden. Links vom Glöckner auf der Französischen Kirche windet sich die Schlange Serpentina um einen Zweig, unbeachtet von dem Pfeife rauchenden Studenten Anselmus und dem biederen Konrektor Paulmann. Alle drei Figuren hat der Zeichner aus dem in Dresden spielenden Märchen „Der goldene Topf“ nach Berlin versetzt.

Am linken Rand der Zeichnung zechen in der Restauration Lutter & Wegner zwei Gäste, die man als Hoffmann und Devrient identifizieren könnte. Sie haben mit ihren Späßen und Maskeraden das ganze Lokal unterhalten. Unweit davon sieht man den höllischen Doktor Dapertutto mit der Kurtisane Giulietta aus dem „Abenteuer der Sylvester-Nacht“. Im Gebäude des Nationaltheaters, das die obere Mitte der Zeichnung einnimmt – es brannte 1817 ab –, wird geprobt. Der beleibte Kapellmeister Weber hat die Arme voller Spezereien, neben ihm – spindeldürr – der Musiker Kreisler, das dichterische Spiegelbild von Hoffmanns eigenem Ich, aus dem erst 1819 begonnenen Roman „Lebensansichten des Katers Murr“. Kreislers parodierendes Gegenstück, der dichtende Kater Murr, ein Philister, hinter dem sich moralische und künstlerische Korruption verbirgt, fehlt noch in der Zeichnung. Nebenan im Direktionszimmer bieten vier Dichter untertänigst dem Theaterintendanten Graf Brühl ihre Manuskripte dar.

E.T.A. Hoffmann sah eines der entscheidenden Kriterien echter Dichtung darin, dass die hier dargestellten Gestalten, Geschehnisse und Umstände als wirklich erscheinen. Dabei kam ihm eine ungewöhnlich sichere Beobachtungsgabe zu Hilfe. Sowohl als Dichter wie als Zeichner gelang es ihm, die Besonderheiten seiner Mitmenschen schnell zu erfassen und einprägsam wiederzugeben. Ob irritierend oder nicht, das Wunderbare passiert bei ihm nicht jenseits geläufiger Wirklichkeit, sondern mittendrin. Die eigene Stadt, das eigene Haus und Zimmer werden zum Schauplatz für Ereignisse, die nicht von dieser Welt sind. Ein gewöhnlicher Türklopfer verwandelt sich plötzlich zur Hexenfratze und markiert zugleich den Eingang in ein Gebäude, wo es unheimlich zugeht („Der goldene Topf“). Aus einem Tintenklecks fährt ein Blitz, und ein Salamander spuckt Feuer, das zur gläsernen Flasche erstarrt, in die der naive Märchenheld Anselmus verbannt wird. Ein ungeliebter Hauslehrer schwirrt unversehens wie ein brummendes Insekt im Milchtopf herum („Das fremde Kind“).

Aber hinter der ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen dem Studenten Anselmus und dem Schlänglein Serpentina, der Tochter des Salamanderfürsten Lindhorst, der in kümmerlicher Menschengestalt, als Geheimer Hofrat und Archivarius in Dresden, sein Leben fristen muss, steht die Utopie einer ästhetischen Existenz. Anselmus verzichtet auf die Hofrat-Karriere und die hausbackene Veronika, er eskapiert mit Serpentina, die ja nichts anderes als eine Allegorie der romantischen Poesie ist, nach „Atlantis“, in den narzisshaften Selbstgenuss im Reich des Schönen. Der Verfasser, der sich selbst mit unerfreulichen Amtsgeschäften abplagen muss, beneidet seinen Helden ob seines Lebens in der Poesie, doch dann will er doch lieber mit den sinnlichen Freuden des irdischen Lebens vorliebnehmen, wobei der Alkohol eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Das ist ein Erzählen aus dem Geist romantischer Ironie, der Kunst des vielfach die Perspektiven wechselnden Erzählens.

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Gerade rechtzeitig zum 200. Todestag „Gespenster“-Hoffmanns, hat der Autor, Kulturjournalist und Filmemacher Norbert Kron ein neues Buch vorgelegt, das sich als „Roman der Freundschaft“, einer echten Romantiker-Freundschaft, begreift. Aus der Sicht des Freundes Julius Eduard Hitzig, der zum Christentum konvertiert war und seinen Namen geändert hatte, wird das Leben des Dichters und Künstlers Hoffmann beschrieben, genauer gesagt beurteilt. Dabei diente Kron Hitzigs erste Biographie des Freundes als Grundlage. Hier gehen die Biographie Hoffmanns und die Selbstbiographie Hitzigs mitunter ineinander über. Diese Tendenz kann man auch in den anderen Romantiker-Biographien Hitzigs – bei Zacharias Werner, Adelbert von Chamisso und Friedrich de La Motte Fouqué – feststellen.

Die Freundschaft Hitzigs und Hoffmanns ist mitunter als die eines Philisters zu einem Genie bezeichnet worden. Wird nicht hier das Bürger-Künstler-Thema angeschlagen, das die Romantiker so sehr beschäftigte? Bei Kron ist Hitzig der uneigennützige Freund, der Hoffmann von der Musik zur Literatur bekehren will. „Ihre wahre Musik ist das Erzählen“, wird Hoffmann von Hitzig beschworen. Hitzig hat Hoffmann kollegial im juristischen Amt unterstützt und ihm durch seine umfangreichen Beziehungen den Zugang zur literarischen Welt Berlins geebnet. In der Rolle eines kommentierenden Gegen-Ich bleibt er der „prosaische“ Freund Hoffmanns, des exaltierten, schwärmerischen Poeten, den er als „Melancholiker“ und närrischen Phantasten tituliert.

Eine raffiniert kalkulierte Blickführung wie Hoffmann erzielt Kron durch sein ausschnitthaftes Sehen, das einer Filmkamera vergleichbar ist. Er lässt einer „Ouvertüre“ drei Akte folgen, die jeweils Ausschnitte aus den gemeinsamen Jahren Hoffmanns und Hitzigs in Warschau und Berlin vermitteln. Den Leser zieht Kron gleichsam in den optischen Sog einer kreisenden Bewegung hinein. Das biographische Material hat er zu Geschichten – sinnlich-konkreten, übersinnlich-phantastischen, absurden, grotesken – montiert. Kein panoramaartiger Überblick, sondern eine fragmentarisierte, ausschnitthafte Wahrnehmung soll geboten werden.

Im Wesentlichen aber beschränkt sich Kron auf das Biographische, ohne tiefer in die musikalische wie dichterische Werkwelt Hoffmanns einzudringen. Über Hoffmanns Oper „Undine“ – sie gilt als erste romantische Oper – und ihre Uraufführung 1816 am Nationaltheater hätte man gern mehr erfahren. Kron berichtet zwar, dass die Aufführung ihren Erfolg Schinkels phantastische Unterwasserwelten verdankte. Hoffmanns Musik sei nur „festliches Beiwerk“ gewesen, zu viel Gluck, zu viel Cherubini. Wie wäre das zu verstehen?

Ja, Kron verweist zwar darauf, dass „Nussknacker und Mäusekönig“ aus dem Umgang Hoffmanns mit Hitzigs Kindern hervorgegangen ist, dass diese im Märchen auch als handelnde Akteure auftreten. Aber wie sind denn nun aus der Perspektive von Kindern mit deren lebhaftem Vorstellungsvermögen die entscheidenden Teile des Geschehens gestaltet worden? Vor allem: Der Dichterjurist Hoffmann war – ohne sein Zutun – 1819 Mitglied einer Kommission geworden, die auf Veranlassung Metternichs gegen politische „Aufwiegler“, sogenannte „Demagogen“, vorgehen sollte. Mit viel Zivilcourage setzte sich Hoffmann für die Betroffenen ein, unter anderem für den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, weswegen ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Aber er wurde selbst Opfer der preußischen Zensur, die sein Märchen „Meister Floh“ (1822), in dem er eine Satire auf die Demagogen-Verfolgung eingebracht hatte, nur in einer verharmlosten Fassung zum Druck freigab. Gerade dieses Märchen zwischen Zensur und Staatsaffäre wäre es wert gewesen, näher erörtert zu werden wie auch „Klein Zaches“ (1818), der Karikatur eines engstirnigen, alles „Unbegreifliche“ verbannenden Rationalismus und Satire auf den Behörden- und Beamtenapparat. Klein Zaches, eine misswüchsige Groteskfigur, die es als Zinnober bis zum Minister bringt, erliegen alle in unkontrollierter Massensuggestion, auch und nicht zuletzt die „Aufgeklärten“.

Der Fensterblick auf den Gendarmenmarkt ist Grundlage für eine der letzten Erzählungen Hoffmanns, „Des Vetters Eckfenster“ (1821), geworden. Wenn man sich hier anstelle des jungen Vetters den Freund Hitzig vorstellt, der von Kron in der gleichen Fenster-Situation geschildert wird, dann wäre das ein Credo sowohl für den realen Dichter Hoffmann als auch für seine Gestalt in Krons Romantiker-Roman. Der schon gelähmte Dichter blickt aus dem Fenster seines Eckhauses auf den Gendarmenmarkt und das Gewimmel der Menschen. Aus dem unerschöpflichen Erfahrungsschatz eines reichen Daseins deutet er das auf den ersten Blick unentwirrbare Durcheinander der ihren Geschäften nachgehenden Menschen. Hinter jedem von ihnen verbirgt sich ein Schicksal. An dem vielleicht letzten Vormittag, den er seinem Besucher schenkt, beweist der todkranke Dichter nicht nur die Kraft dichterischen Schauens, sondern gibt ein Beispiel zutiefst menschlicher Gesinnung.

Vor 200 Jahren, am 25. Juni 1822, ist der „Gespenster“-Hoffmann gestorben.

Norbert Kron: Der Mann, der E.T.A. Hoffmann erfand. Roman einer Freundschaft, AphorismA Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 22,00 Euro.