25. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2022

documenta 15

von Stephan Wohanka

Die Leute haben im Namen der Kunstfreiheit die Kunst liquidiert.
Bazon Brock

Dass die documenta 15 ein „Problem“ mit dem Antisemitismus habe, ist über Wochen ausgiebig besprochen worden. Desgleichen, dass es kurz nach ihrer Eröffnung zu einem veritablen Skandal in dieser Sache kam. Die Darstellung von Juden als Schweine damit zu erklären, es handle sich um eine in Indonesien mögliche, ja authentische kulturelle Sicht, die nur in Deutschland anstößig erscheine, zeugt erst einmal von erheblicher Arroganz dem Gastland der documenta gegenüber. Wenn diese Sichtweise in Indonesien opportun ist, dann kann – und konnte – das Bild-Banner, das in Kassel nach seiner Verhüllung richtigerweise abgehängt wurde, dort ja auch gezeigt werden. Das sehen nicht alle so; hiesige Kultur-Arbeiter assistieren: „Warum soll sich der globale Süden mit den Problemen des deutschen Antisemitismus befassen“?

Ich denke jedoch, dass das grundsätzliche, wirkliche Problem dieser Kunstausstellung tiefer liegt. Auffällig ist: Es stellen beinahe nur Kollektive aus; selbst „der“ Kurator ist ein solches; es nennt sich Ruangrupa und kommt aus Indonesien. Diese Kollektive mit jeweils eigener „kultureller Identität“ tragen keine individuelle Handschrift und folglich auch keine zuordenbare Verantwortung. Auf einem – kleinen – Banner im Fridericianum steht unmissverständlich: „Wir befolgen keine deutsche ,Integrations‘-Politik, wie man sich in einer weißen Institution zu benehmen hat.“ Zu gut deutsch: Wir machen unser Ding, sollen die doch reden, die weißen Deutschen, was sie wollen! Und damit sind alle entscheidenden Chiffren beisammen, die das Dilemma der documenta umreißen – „Wir“, die „Weißen“ und „Kollektiv“. Wie passt das zusammen und bildet die destruktive Melange in Sachen documenta (und darüber hinaus)?

Sabine Schormann, die Generaldirektorin der documenta, nimmt die Künstler in Schutz: Sie „haben versichert, dass es keinen Antisemitismus geben wird. […] Sie haben ihre Aufgabe aus ihrer Perspektive wahrgenommen, und es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist.“ Aha – „… das Problem aus ihrer Perspektive wahrgenommen“ heißt nichts anderes, als dass Ruangrupa seine Perspektive der einer „weißen Institution“ – mindestens der deutschen Staatsräson sowie dem deutschen Rechtssystem – bewusst entgegengesetzt hat. Wenn sich Ruangrupa in einer derartigen Wortwahl gefällt, ist klar, aus welchen Quellen sich seine Perspektive speist – aus einer identitär-antirassistisch-postkolonialen. Da wird bewusst ein Gegensatz konstruiert zwischen „uns“ und „weiß“. Die identitäre Debatte knüpft zwar an die Heterogenität und so an den Entwicklungsstand unserer hochdifferenzierten Gesellschaft an, greift aber paradoxerweise auf den strukturell gleichen Mechanismus zurück, dessen sich der rassistische Rechtsextremismus bedient: Ausgrenzung! Letzterer will das über die Homogenisierung der Gesellschaft – ein Volk, eine Ethnie, eine Kultur – schaffen und kreiert so ein „Wir“ gegen „Die“. Fehlgeleitete identitäre Antirassismuskämpfer etablieren desgleichen Unterschiede – und zwar zwischen denen, die ihren teils kruden und absurden Thesen und Anschauungen folgen, und denen, die das nicht tun. So unterschiedlich all die Belange sind – Geschlechterfragen, Fragen der sexuellen Orientierung, der Hautfarbe, der (post)kolonialen Erfahrung, die zu Identifikationsangeboten werden –, so sehr eint sie, dass sie die Welt in Gruppen einteilen und damit Räume für Kulturkämpfe aller Art eröffnen; beispielsweise einen für diesen: Antisemitismus und Dämonisierung Israels aus postkolonialer Sicht.

Bazon Brock, umtriebiger Kunsttheoretiker, nimmt sich in einem Interview im Deutschlandfunk das Wesen der tendenziell totalitären „Identitäts“-Kunst vor: Sie sei die Negation der individuellen Autorenschaft, die einstmals Grundlage des europäischen Entdeckermuts in Kunst und Wissenschaft war. Dieser gründete allein darauf, dass der Autor nur kraft seiner eigenen schöpferischen Leistung legitimiert sei. Keine Macht, keine Institution, kein Geld machten ihn zum Autor, sondern das, was er an Welt-Anschauung beizutragen vermochte. Alle diese Autoren waren und sind Vertreter eines europäischen, „westlichen“ Weltgedankens, der für individuelle Bedeutung, Würde und Verantwortung ohne Repräsentation von „kultureller“ Macht stehe. Das alles werde jetzt „unter dem Schafsstallgeblöke der kulturellen Identitäten gerade beerdigt“. Bündig gefasst, steht für Brock der europäisch-westliche Individualismus im Sinne einer einzigartigen, unverwechselbaren und einklagbaren Autorenschaft gegen die sich aus identitären Belangen speisende Gruppen(bildung) mit verschwimmenden Konturen von Urheberschaft und Verantwortung. Folgt man „Documenta-Tipps“ von Spiegel-Autoren, so heißt es gleich im Untertitel „… auf der Documenta zählen Ideen und gemeinsames Abhängen (ob diese Doppeldeutigkeit gewollt ist? – St. W.) mehr als große Kunstwerke“. Und gleich weiter: „Eines gleich vorweg, das wichtigste Werk der Documenta können Sie nicht sehen, das müssen Sie den Machern zufolge erleben und selbst dazu beitragen: Gruppengefühl.“ Sic! Es folgt ein an „who is who“ erinnerndes „what is what“ der documenta, das mit „Landung der ´Citizenship´“ beginnt: Berliner Kunst-Aktivisten nahmen das Giebeldach ihrer Berliner Residenz ab und bauten es zu einem Schiff um. Das „Werk“ schippert über Havel, Weser und Fulda nach Kassel. Die Crew treibt durch Fahrräder auf Deck mit Muskelkraft die Schraube an oder lässt sich vom Ufer von Unterstützern ziehen. Lebensmittel und Übernachtungen sollen dem wechselnden Team gespendet werden. Kunst oder Camping? Es folgen „Bunte Bilder, kämpferische Stimmung“ und dann „Abhängen fürs Asylrecht“: Sofas stehen im Kreis, davor bunte Teppiche, Topfpflanzen, Fernseher … Auf Monitoren setzt sich die „dänische Organisation“ für die Rechte von Asylsuchenden ein; es „wird zusammen abgehangen, um Politik zu machen statt Kunstwerke – ein typischer Beitrag für die Documenta 15“. Es folgt „Falsche Bananen, echtes Gemüse, große Show“ sowie „Vom Horror mit Halal-Hähnchen“: „Wir haben sechs Imbisse versteckt – findest Du sie?“ Es geht aber nicht um Chicken-Stände, sondern die Sache „ist ein satirischer Hinweis auf zunehmende Islamophobie und religiöse Diskriminierung“. Es folgt „Voodoo in der Kirche“ – es sind „ figurale Skulpturen“ versammelt; „das Kollektiv Ghetto Biennale will hier auch Zeremonien und Trance-Nächte mit Musik inszenieren“. Nächster Stopp: „Bitcoins? Nein, Cheesecoins!“ – das „spanische Kollektiv Inland steht für die Schnittmenge aus Kunst, der Erforschung landwirtschaftlicher Räume und Strategien – und … auch für die Erfindung des ,Cheesecoin´, der begründet eine neue Währung oder viele Kunstwerke, ganz nach Geschmack“. Ich lasse etwas aus und komme direkt zum „Clash mit dem Westen“: „Im Handbuch zur Ausstellung heißt es, dass dieser Künstler ,das westliche auf die Einheit gerichtete Denken mit der Idee der Vielheit‘ konfrontiere. Der Künstler will gerne die ganze Welt neu einstimmen, er sagt, er thematisiere den Clash westlicher Denkstrukturen mit anderen Weisen, die Welt zu sehen.“ Exakt darum geht es, was den schon zitierten Brock veranlasst zu sagen, dass diese documenta „die bedeutendste (ist), die es je gegeben hat, weil sie die augenblickliche Lage der Weltlage abbildet. Sie ist zugleich die gefährlichste und folgenreichste“. Den Endpunkt des documenta-Reigens bilden „Questions über Questions.“

Die bleiben. Oder besser – sind aufgeworfen. Seit wann sind Kunst und politischer Aktionismus eigentlich Synonyme? Mit Bedeutungen kann man alles aufladen; zur Kunst wird es dadurch, dass es zu Kunst erklärt wird. Zur „Kunst“ wurde auf dieser documenta die Anerkennung des identitären Kollektivs selbst als Hort der ethnischen Herkunft von Kunst. Zwar fällt der Begriff „Rasse“ nicht (nur von „weiß“ ist die Rede); er wird sozusagen „ersetzt“ durch das positiv besetzte Wort „Kunst“, um stereotype „postkoloniale“, „diskriminierende“ und andere Zuschreibungen zu treffen. Der Riss geht nicht nur durch die Welt der Kunst.