Erotische Erwartungen hatte ich nicht. Ein Buch von André Kubiczek bewegt sich in anderen Sphären, das wusste ich schon. Aber ich war neugierig, wie es weiter geht mit René, der nach „Skizze eines Sommers“ und auf der „Straße der Jugend“ nunmehr 1986-1987 unterwegs ist. Der Klappentext versprach immerhin eine Liebesgeschichte mit der eher im Geiste präsenten Rebecca.
Aber 195 Seiten lang passiert nichts! Weder mit René, noch mit Rebecca, schon gar nichts mit beiden. Alles läuft strikt nach Szenario, dem vorgegebenen Tagesablauf an der ABF, der Vorbereitung auf ein Auslandsstudium. Ein Studium, das sich René nicht ausgesucht hat, mit dem er sich nicht beschäftigt und zu dem er an dieser Stelle noch keine Alternative sieht. Er hatte einfach nicht „Nein“ gesagt. „Wer aber nicht Nein gesagt hatte zu einem Angebot wie diesem hier, der hatte kein Recht, sich zu beschweren. Wer nicht Nein gesagt hatte, musste durchhalten. Der musste die Zähne zusammenbeißen, bis es vorbei war.“ Bonjours tristesse!
An der Stelle wollte ich nicht mehr dabei sein, so wie vorher bei Renés/Kubiczeks Streifzügen durch Literatur und Musik, alles mit jugendlicher Unbekümmertheit. René, hätte ich ihn gekannt und getroffen, wäre nicht mehr mein Freund. Der hängt einfach fest in einer Dauerschleife aus lustloser Unterrichtsteilnahme, über die wir aber so gut wie nichts erfahren, Lesen, Trinken und Rauchen! Zigaretten sind überhaupt ein wichtiges Thema, da wäre weniger mehr gewesen (inhaltlich wie aus Gesundheitsgründen). Von seinen Freunden sind noch die Mitstudenten Robert und Günter, alias Heiko, übrig. Sie geben ihm zwar Halt, doch haben sie natürlich eigene Interessen, Lieben, Freundschaften, die eifersüchtig beäugt werden. Und keine Spur von Rebecca, die wider Erwarten nicht in Halle ankommt, um an der Burg Giebichenstein zu studieren.
Dafür trifft er Anja, Lehrling im Buchladen, die „von innen heraus strahlte“, wenn sie ihn sieht. Sein Kunstinteresse fällt beim Reden über Autoren auf, und so wird er zum leicht konspirativen „Filmclub 188“ eingeladen, wo Werke von Dsiga Wertow und Sergej Eisenstein laufen. Anja sucht seine Nähe, aber René ist gefangen in seiner Anbetung Rebeccas und lässt Nähe nicht zu.
Die Wendung im Leben und im Buch kommt mit dem „Process“. Die ihm verhasste FDJ-Leitung hat ein Tribunal anberaumt: Man wirft ihm kollektivschädigendes Verhalten vor. Da er sich diesem Kollektiv eh nicht zugehörig fühlt, darin keine Freunde hat, Wohlwollende ignoriert, lässt er es darauf ankommen. Endlich bricht aus ihm heraus, was er seit dem ersten Tag an der ABF denkt: „Ich lasse es sein. Das Studium in Moskau.“
Derweil haben sich zuhause in Potsdam die Familienverhältnisse geordnet. Sein Vater lebt bei seiner neuen Frau und deren jüngerer Tochter. Die ältere, Victoria, kurz Renés Freundin, nutzt die Chance für sich und zieht in die freie Wohnung. René ist zunächst verblüfft, freundet sich aber schnell mit der Situation an. Das beschert ihm eine nicht völlig einsame Weihnachtszeit, abgesehen von den obligatorischen Essen mit der neuen Familie. Bleibt das Problem, dem Vater beizubringen, dass er quasi das Studium geschmissen hat. Der direkte Weg ist versperrt, weil beide, in Gegenwart des anderen, keine passenden Worte finden. Der Umweg führt über die neue Frau, sie versteht die Lage und bringt René zurück zum eigenen Denken. Nach dem Jahreswechsel und der Rückkehr nach Halle kann er erkennen, dass seine Studienleiterin durchaus gewillt ist, ihm zu helfen, und dass eine Neuorientierung möglich ist. Plötzlich öffnet sich eine Perspektive für ein Studium der Germanistik in Leipzig.
Beim nächsten Besuch im Filmclub dann die große Überraschung. Rebecca ist da, unangekündigt, ohne vorherige Kontaktaufnahme, seit sie in Halle ist. Egal. „Ihre pure Gegenwart genügte, um alle Zweifel platzen zu lassen, die ich je gehabt hatte […] Zeit und Raum wurden mit einem Schlag nichtig.“ Und dann kommt er, der perfekte Kuss. Diesmal bleibt es nicht dabei, in den Maiferien erlebt er den besten Urlaub seines Lebens auf der Datsche von Rebeccas Eltern.
Im Sommer das Ende, Rebecca hatte ihm nicht gesagt, dass die Familie auf die Ausreise in die BRD wartete, und so war sie plötzlich weg. Er setzt die Kopfhörer auf und hört „The perfect kiss“ von New Order. „Der perfekte Kuss war der Abschiedskuss für immer, von dem man nicht wusste, dass er es werden würde.“
Nun muss er sich auf die Abschlussprüfungen konzentrieren, er hat die Zusage für das Germanistikstudium bekommen. Im Hinterkopf trampelt aber der Pferdefuß auf sein Gemüt. Die Zulassung ist mit drei Jahren NVA schwer erkauft. Bleibt noch ein Ausflug in die real existierende sozialistische Wirtschaft mittels eines Praktikums in einer Maschinenfabrik, die ihm die Erkenntnis bringt, dass die Arbeiterklasse das Volkseigentum durchaus in die eigenen Hände (und Taschen) nehmen kann, um es nützlich neu zu verteilen.
René beendet das Kapitel Schule mit der Aussicht, „du schmeißt drei Jahre weg, aber du rettest dadurch dreißig andere Jahre deines Lebens, vielleicht noch mehr“. Vorm Einschlafen „drückte ich Gorbatschow die Daumen, dass ihm sein großes Vorhaben gelingen und etwas von seinem Geist, trotz des Tapeteninterviews aus dem Frühling, dereinst auch durch unsere Lande wehen möge“.
André Kubiczek: Der perfekte Kuss, Rowohlt, Berlin 2022, 395 Seiten, 24,00 Euro.
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