Es gab einmal, vor nicht so langer Zeit, ein Land, das hieß DDR. Und in dieser DDR gab es eine besondere Schule, die hieß ABF. Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, die Idee dahinter war nach dem Weltkrieg geboren, der nicht nur Millionen Tote und zerstörte Städte und Landschaften hinterließ, sondern auch eine geistige Leere und den Bildungshunger der Kriegskinder. Der antifaschistische, sowjetisch dominierte Teil Deutschlands begann 1946 gezielt Kinder der vormals benachteiligten Arbeiter- und Bauernfamilien in „Vorstudienanstalten“ an die höhere Bildung heranzuführen, um eine neue, von den alten Eliten unabhängige Intelligenz zu schaffen. 1949 wurden diese Einrichtungen als Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten gleichberechtigt in den Universitätsbetrieb eingegliedert. Hermann Kant beschreibt diese Zeit hervorragend in seinem bekanntesten Roman „Die Aula“. 1985 ist von den ehemals über das Land verteilten ABFs nur eine übrig, in Halle an der Saale. Sie verdankt ihr Überleben einer besonderen Zweckbestimmung. Denn seit 1954 wurden hier, zunächst parallel zu den allgemeinen Kursen, Schüler für ein Studium im sozialistischen Ausland, zumeist in der Sowjetunion, vorbereitet. Sie sollten nach Ankunft dort in der Lage sein, dem Unterricht in der Landessprache zu folgen.
1985 ist der Name ABF wie vieles andere in der DDR überholt. Längst ist nicht mehr die soziale Herkunft für die Zulassung entscheidend, sondern die Perspektive einer der SED und der DDR treu ergebenen Führungsschicht. Einer der damals Auserwählten ist René, der Ich-Erzähler und Hauptdarsteller von André Kubiczeks 2020 erschienenen Roman „Straße der Jugend“. Bereits 2016 hatte er die „Skizze eines Sommers“ vorgelegt, die Beschreibung des Gemütszustands einer Generation, die kurze Zeit später als junge, gerade Erwachsene den Zusammenbruch ihres Gesellschaftssystems erlebten. Das neue Buch schließt hier nahtlos an. Wieder lässt sich René treiben, folgt eher widerwillig dem vorbestimmten Weg – Studienlenkung, Berufslenkung, Absolventenlenkung – die Planwirtschaft regiert. Ausbrechen ist nur über hohe Hürden möglich und er weiß noch nicht wohin, was seine Bestimmung ist. So tritt er das Studium an der ABF an, leicht gebauchpinselt von der herausgehobenen Stellung als Student gegenüber seinen ehemaligen Mitschülern. Aber ABF heißt auch Internat. Und so erkennt René: „Ich merkte ja selber, dass heute etwas tot war, was gestern zumindest noch in den letzten Zuckungen gelegen hatte. […] Die Kindheit!“. Schon im Vorbereitungskurs in einem Ferienlager wird ihm klargemacht: „Ich war die Personifizierung dessen, was der Direktor und seinesgleichen nicht duldeten.“ Punkfrisur, schwarze Klamotten, Aufnäher.
Heute, 35 Jahre nach diesen Gedanken, ist der Autor dieser Zeilen oft ratlos, wie er selbst diese Zeit erlebt hat, wie ihm diese Phrasen vom Klassenkampf leicht über die Lippen gingen. Es war eben so? Wir kannten es nicht anders? War normal? René duckte sich weg. Wenn sein Vater ihn fragte, wie es war, kam ein „Ging so“. Eine offene Auseinandersetzung über das Erlebte hätte den Vater in eine Erklärungsnot gebracht, die seine Existenz bedrohte und er hatte selbst noch keine Antworten auf die Fragen. Also lebte jeder weiter in seiner Welt und den Zweifeln daran. René unterwirft sich dem Rhythmus der Schule und des Internats. Nach dem Unterricht entflieht er ins Café Surprise, wo er seinen Kumpel Robert trifft. Oder er hört Musik, die dort sonst keiner hört und liest Bücher, die sonst keiner liest. So verschwindet er gern unter Kopfhörern und gibt sich der Stimme und den Texten (soweit er sie verstehen kann) von Morrissey und dessen Band The Smith hin. Eine Titelliste befindet sich im Roman. Er liest Rilke, Baudelaire, Bukowski und kauft drei Bände Lord Byron. Wir bekommen eine Ahnung davon, was aus René werden könnte, als er es selbst noch nicht weiß: Ein Künstler.
Stattdessen bereitet er sich weiter darauf vor, in Moskau Organisation der materiell-technischen Basis zu studieren. Während sein Freund Robert ein Draufgänger mit zwei Freundinnen ist, quält sich René mit der Liebe. Da ist zum einen Victoria, Fritzis große Schwester, die ihn sanft zum ersten Mal verführt, aber mit der räumlichen Trennung nicht klarkommt und zum anderen Rebecca, seine Seelenverwandte, deren weltoffenes, künstlerisches Umfeld ihn fasziniert, wo beider Gefühle lange Zeit in eine eher geschwisterliche Beziehung tendieren. Echt hart wird es, als er erfährt, dass sich sein Vater inzwischen in Victorias Mutter verliebt hat und die Fahrt in Richtung Zusammenleben geht.
Der schnelle Ausweg ist oft der Alkohol und der Rückzug in sich. Und die Träume. Mit seinen Potsdamer Freunden will er eine linke Kunstzeitschrift gründen, dabei wird aber mehr über die Notwendigkeit einer Sekretärin gestritten, als nur ein Beitrag geschrieben. Seine Hallenser Freunde wollen eine Band gründen und die wichtigste Frage ist der Name der Band, ohne auch nur ein Stück spielen zu können. All das lenkt ihn ab vom Studium von „Materialismus und Empiriokritizismus“, den wiederkehrenden Drohungen mit Exmatrikulation wegen Aufmüpfigkeit und der zunehmenden Verkrustung der DDR.
Wie bereits im vorausgehenden Buch erzählt er das alles mit der Leichtigkeit des Teenagers, als wäre es gestern gewesen, besser, als wären wir heute alle mittendrin. Man will sofort mit ihm befreundet sein. Exemplarisch sei hier die Beschreibung des Weihnachtsfests genannt. Sein Vater schleppt ihn ohne Vorbereitung zu seiner neuen Liebe. „Oh Mann, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein.“
Ernsthaftigkeit stellt sich eher beim Leser ein, der mit dem heutigen Wissen innehält und nachdenkt, über ihn und über sich. Und warum René zu dem Schluss kommt „Vielleicht gewann Reden manchmal Silber. Schweigen aber gewann immer Gold.“ Illustriert wird die Geschichte durch Zeichnungen von Rebecca Michaelis. Ich hoffe, es geht weiter.
André Kubiczek: Straße der Jugend, Rowohlt Berlin, 2020, 400 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: ABF, André Kubiczek, DDR, Werner Krumbein