von Werner Krumbein
Diese Jahreszeit mit ihrem trüben kalten Wetter erscheint besonders geeignet, ein Buch mit dem Titel „Skizze eines Sommers“ zu lesen, selbst wenn man – wie der Rezensent – beim Schreiben dieser Zeilen im Warmen auf der Insel Madeira weilt und den Atlantik im Blick hat.
Ich erinnere mich, wie ich den Autor kennenlernte. Wobei das eigentlich nicht stimmt, kennenlernen, denn damals lief er als kleiner Junge gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder, die leider beide nicht mehr am Leben sind, durch den Park Babelsberg, und für uns Studenten waren die drei ein warmer Farbtupfer in einem zwar nicht grauen, aber doch reichlich verschulten Studienalltag. Natürlich weiß er nichts davon.
Sie denken, das ist jetzt zu persönlich? Mag sein, bei einem anderen Autor. Aber nicht bei ihm, denn André Kubiczek schreibt über sich selbst. Er hat die Fähigkeit, das eigene Leben mit dem Allgemeinen so zu verweben, dass man nicht mehr weiß, was Realität ist und was Fiktion. Er nimmt uns mit in eine Welt, die er teils selbst erlebt, teils selbst erschaffen hat.
Hier ist es das Jahr 1985. Er ist 15 Jahre alt, kurz vor dem 16. Geburtstag, und sein Leben erfährt eine neue Herausforderung, denn zum ersten Mal ist er für lange Zeit allein gelassen. Sein Vater hat die Chance bekommen, an einer internationalen Konferenz teilzunehmen, und ist der Meinung, André sei alt genug, um die halbe Zeit der großen Ferien allein klarzukommen, und die andere Hälfte soll er zu seinen Großeltern fahren. Kubiczek beschreibt die Situation nicht als Rückblende, nicht als Erfahrungsbericht, nicht aus der Sicht des jetzt 46-Jährigen. Nein, er steigt zurück in sein Leben in jener Zeit, er denkt, spricht, fühlt und handelt genauso noch einmal, wie er es damals womöglich getan hat oder gern getan hätte. Und das ist seine besondere Kunst. Denn wenn wir dies lesen, nimmt er uns mit in seine Gefühlswelt, und wir glauben, wir seien dabei, säßen neben ihm, in der Diskothek, auf der Parkbank oder im Zug, und die Gedanken schweifen ab vom Text und man überlegt, wie man sich selbst denn damals gefühlt habn mag: Wie habe ich denn selbst entschieden oder gehandelt?
Mit diesem Buch hat es André Kubiczek auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels geschafft. Eigentlich ein Armutszeugnis für einen Dachverband deutschsprachiger Buchhändler, einerseits die eigene Nominierungsliste mit einem englischen Begriff zu besetzen und andererseits der nationalen Komponente durch das wiederholte Adjektiv einen völkischen Beigeschmack zu geben. Aber das ist ein anderes Thema.
So durchleben wir mit André gemeinsam eine Phase seiner Pubertät. Doch halt! Schon bin ich ihm auf dem Leim gegangen. Der Held der Geschichte ist ja nicht André, sondern René, und ich lese einen Roman. Was macht das für einen Unterschied? Der Autor ist nicht beschränkt auf das eigene Erleben, er kann die Geschichten seiner Freunde Mario, Michael, Dirk, seiner Generation überall da einweben, wo er selbst Lücken hat oder anderes interessanter, typischer war. Das stört kein bisschen bei der Identifikation mit dem Buchhelden.
Wir spüren das Kribbeln im Bauch, wenn sich zum ersten Mal die Knie des Helden mit denen eines hübschen Mädchens berühren, wenn er das erste Mal versucht, die Hand auf ihre Schulter zu legen. Wir spüren den beißenden Rauch der ersten Zigarette, den eigenartigen Geschmack von Alkohol. Wir fühlen die Ratlosigkeit, allein zu sein, selbst entscheiden zu müssen für jede kleine Tätigkeit des Tages, nachdem der Vater vorher jahrelang bestimmt hatte, wo es langgeht.
Immer wieder lege ich das Buch zur Seite und grüble über diese Zeit. Mir wird klar, dass diese Generation der Teenager der Mitte der achtziger Jahre die Keime der sogenannten Wende bereits in sich trug. Diese Jugendlichen sind schon nicht mehr erreicht worden von der Politik, von den gesellschaftlichen Organisationen. Sie hatten selbst zwar noch keine Vorstellungen, wie es anders sein sollte. Sie waren aber bereit, der Entwicklung, die so klar vorgezeichnet schien, die eigenen Wünschen nicht einfach zu opfern.
Es fällt der Name Gorbatschow, aber der war 1985 nur einer, der auf drei greise Männer folgte, die kurz hintereinander gestorben waren, zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt wurde und von dem nichts erwartet wurde, was das Leben eines 16-Jährigen verbessern konnte. Selbst René, der Sohn hochgebildeter, politisch engagierter, dabei nicht verknöcherter Eltern sieht für sich in der politischen Situation der DDR keinen Platz. Er rebelliert mit seinem Aussehen und seiner Kleidung. Die Musik ist der einzige Zugang zur flirrenden Welt des Westens.
Natürlich ist René zunächst mit sich selbst beschäftigt. Mit der Hauptsache, die es für einen Sechzehnjährigen gibt: Mädchen. Wir lernen gemeinsam mit ihm Bianca, Rebecca und die große Schwester von Fritzi kennen und überlegen, für welche man sich selbst denn entschieden hätte. Ähnlich mit der Berufswahl. Es gibt nicht die Chancen der Selbstfindung, des sich Ausprobierens, des erst einmal in der Welt Umherschauens … Nein, hier soll alles Schlag auf Schlag seinen vorbestimmten Weg gehen: Abitur, ABF, Studium in der Sowjetunion, Intelligenzija. Mangels erkennbarer Alternativen lässt der Held sich treiben, wird unruhig, sobald er in die fremde Welt der Rebecca und ihrer Eltern eindringt.
Noch folgt er dem vorbestimmten Weg, aber der Stachel ist gesetzt. „Klar gibt’s ein Zurück“, sagt Rebecca „man muss sich nur trauen.“ Er antwortet, dass er sich grad nicht traue. Doch er wird ausbrechen, sobald die Zeit reif ist.
Werner Krumbein, Jahrgang 1952, studierte Außenpolitik am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg, arbeitete im internationalen Bereich des Zentralrats der FDJ und des Reisebüros Jugendtourist und später als Tourismusmanager. Der Autor lebt in Storkow.
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