25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Von klugen Frauen und
einem überwältigenden Dickwanst

von Wolfgang Brauer

Der Sinn von Opern-Ouvertüren besteht ja darin, uns allmählich in die Partitur einzuführen, die Motivik aufzublättern und peu à peu den Staub des Alltags von den Sinnen zu pusten, damit wir bereit sind, uns auf die unwahrscheinlichste aller Welten, die der großen Oper, einzulassen. In seiner letzten Oper „Falstaff“ (1893) verzichtet Giuseppe Verdi komplett auf dieses scheinbar unentbehrliche musikdramaturgische Versatzstück und stößt die Zuschauer unvermittelt in die Handlung des Stückes. Die hat es durchaus in sich.

Während sich in William Shakespeares Vorlage „Die lustigen Weiber von Windsor“ alles um das tolle Treiben der Damen Ford und Page dreht, die ihr Mütchen in einer wilden Komödie – Wiederholungen der Handlungsmuster scheut der Meister aus Stratford nicht – am verfressenen, geld- und sexgierigen Ritter John Falstaff kühlen, rücken Verdi und sein Librettist Arrigo Boito eben jenen Falstaff in das Zentrum. Boito strafft Personage und Handlung. Er bedient sich auch in Shakespeares „Heinrich IV.“ und schafft ein Libretto, das shakespearescher ist als das Original. Ein rarer Glücksfall in der Operngeschichte! Und Verdi selbst – „Falstaff“ ist durchkomponiert – liefert nicht das, was man eigentlich erwartet: kein Schmelz, keine Belcanto-Arien, keine wuchtigen Chorszenen. Nirgends erscheint der Ohrwurm, der einem stundenlang nicht aus dem Kopfe gehen will. Hier sitzt jeder Takt. Die Oper ist sowohl vom Text als auch von der Musik her ein einziges Cicaleccio, ein Geplauder, ein anhaltendes Parlando, auf das man sich einlassen muss – und das einen bis zum Schlussvorhang nicht wieder loslässt.

Wenn die Inszenierung stimmt, wenn das Orchester etwas taugt und der Dirigent es versteht, sich eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen. Wenn die Solisten begreifen, dass es sich um ein Ensemblestück handelt und auch die brillanteste Stimme nur im Miteinander aufleuchten kann. Das ist nichts für Rampensäue. Das ist schwer hinzubekommen – auch Verdi hatte mit dem Falstaff der Uraufführung, dem französischen Bariton Victor Maurel, anfangs einige Probleme.

2021 inszenierte Barrie Kosky, der Intendant der Komischen Oper Berlin, „Falstaff“ in Zusammenarbeit mit der Oper Lyon für das Festival d’Aix-en-Provence. Diese Arbeit ist jetzt in Berlin zu sehen. Kosky folgt den Intentionen Boitos und Verdis – er nimmt den Titelhelden Sir John Falstaff ernst. Er verzichtet auf jeden billigen Diskriminierungseffekt. Kosky meint, es sei „unmöglich, ‚Falstaff‘ zu spielen, ohne Falstaff zu lieben!“ Dabei dreht er die Figur nicht um. Falstaff bleibt auch in dieser Inszenierung der bauchgesteuerte Genussmensch: „Ein einsamer Mann, voller Ideen und Witz, frech und eitel. Dessen Gesellschaft Spaß macht, der aber manchmal auch etwas unappetitlich ist.“

Kosky konnte für diese Partie den texanischen Bariton Scott Hendricks gewinnen. Ein Glücksgriff! Hendricks beherrscht die Rolle nicht nur gesanglich perfekt, der Mann kann auch spielen. Das darf er schon im 1. Bild des 1. Aktes unter Beweis stellen. Barrie Kosky kam auf die geniale Idee, den Helden des eigenen Bauches mit einer Kochorgie einzuführen und dabei die dubiosen Diener Bardolfo (James Kryshak) und Pistola (Jens Larsen) abfrühstücken zu lassen. Klar doch, das ist eine stille Hommage an Gioachino Rossini – den kochenden Komponisten oder eher komponierenden Koch? Egal, von dessen „Barbier von Sevilla“ (1816) hin zu Verdis letzter Oper zieht sich eine Linie, auf die Kosky zu Recht hinweist. Und wenn in den Umbaupausen dieser Inszenierung das Publikum plötzlich mit italienischen Rezepturen vom „Primo“ bis zum „Dolce“ traktiert wird, sollte man einfach nur die Augen schließen, die Übersetzungsanlage ignorieren und sich den Stimmen von Martina Borroni und Lorenzo Soragni ausliefern. Erotisierender kann man keine Rezepturen vortragen. Dass Kosky nun auch noch den armen Hendricks mit nacktem Hintern um seinen Küchentisch tänzeln lässt, ist an dieser Stelle eine überflüssige Marotte.

Sir John Falstaff jedenfalls ist pleite. Er versucht durch das Anbaggern der Gattinnen an das Vermögen der Herren Ford und Page heranzukommen. Mr. Page taucht bei Verdi/Boito nicht auf, Ford (Günter Papendell) hingegen intensivst. Der kriegt Wind von der billigen Tour des Möchtegern-Nebenbuhlers, traut aber zugleich seiner Ehefrau (Ruzan Mantashyan) nicht über den Weg. Fords große Eifersuchtsarie im 2. Akt ist ein Papendellsches Bravourstück! Es macht Freude zu erleben, wie diese begnadete Stimme die Persönlichkeitsdefizite der Rolle immer wieder ausgleicht – und dann einen Dämpfer verpasst kriegt. Ersteres gilt auch für Karolina Gumos, deren Mrs. Meg Page immer ein wenig im Schatten von Mrs. Alice Ford steht. Aber wenn sie darf, dann ist sie gut, richtig gut. „Falstaff“ ist ein Ensemblestück – und dieses Ensemble funktioniert!

Ganz klein wenig hervorheben möchte ich dennoch das Buffo-Paar Nannetta-Fenton (Alma Sadé und Oleksiy Palchykov). Wie die beiden miteinander agieren, das ist voller Witz, Fentons Liebeslied und Nannettas Arietta werden zu köstlichen Kabinettstücken.

Manche Kritiker vermissen in dieser Inszenierung den bereits zitierten Verdi’schen Schmelz. Dieses Sänger-Ensemble – ich möchte die herrliche Mrs. Quickly, aus der Agnes Zwirko eine lüsterne Vollblutintrigantin macht, nicht vergessen – zeigt, dass es auch ohne geht. Das Orchester unter Ainärs Rubikis ist diesem Team ein kongenialer Partner, möchte gelegentlich aus seiner dienenden Funktion ausbrechen und ordnet sich dennoch zum Gewinn des Ganzen immer wieder ein.

Musikalisch ist das ein hochgradig erfreulicher Abend! Und Barrie Koskys Regieeinfälle überzeugen. Auch wenn Falstaff anstelle des Wäschekorbs in einen Bettbezug klettern muss. Warum auch nicht. Die Oper ist die unwahrscheinlichste aller Welten.

Am Schluss steht der Ritter Falstaff ziemlich gerupft da („Die Welt ist eine Räuberhöhle“, jammert er zu Beginn des 3. Aktes). Sein Widersacher Ford allerdings auch. Gewonnen haben die Frauen. Aber niemand ist wirklich am Boden zerstört. „Falstaff“ sei ein Werk „tiefster Humanität“, urteilt der Verdi-Biograf Alfred Marquart. „Tutto nel mondo è burla“, heißt es in Verdis Schlussfuge. Alles auf der Welt ist ein Witz, eine Posse – man soll das nicht ganz wörtlich nehmen, aber ernst zu nehmen ist das schon. Gerade heute.

Am Premierenabend trat zum Schlussapplaus Oleksiy Palchykov an die Rampe und warb um Solidarität mit seinem Volk. Palchykov ist Ukrainer. Im Lachen zeigten sich die Tränen. Auch das meinten Giuseppe Verdi und Arrigo Boito. Der Versuch des historischen roll back im Osten Europas richtet sich auch gegen die Kunst.

Wieder am 12.5., 22.5., 28.5., 5.6., 11.6., 25.6 und 9.7.