25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Wieder gelesen: „Die Torheit der Regierenden“

von Hannes Herbst

Ich bin überzeugt,
dass wir aus der Geschichte lernen können.
Helmut Schmidt

[…] Leidenschaft und Parteigeist machen
unsere Augen blind, und das Licht,
das die Erfahrung spendet,
ist eine Laterne am Heck,
die nur die Wellen hinter uns erleuchtet.
Samuel Colerigde

Ich bewundere […] Barbara Tuchman“, schrieb Helmut Schmidt im Jahre 2004. Immerhin 30 Jahre, nachdem die US-amerikanische Journalistin – sie berichtete in den 1930er Jahren aus dem spanischen Bürgerkrieg – und nachmalige Historikerin ihre Untersuchung „The March of Folly. From Troi to Vietnam“ (deutscher Titel: „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“) bei Alfred A. Knopf, New York, publiziert hatte. Unter Torheit verstand die 1989 verstorbene Autorin politisches Handeln wider die eigenen Interessen.

Machte sich heute jemand daran, eine Fortsetzung zu den seither vergangenen Jahrzehnten zu verfassen, müsste er mit Russlands Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 ganz gewiss nicht beginnen, aber ebenso gewiss gehört diese Aggression ins Pantheon der Großtorheiten. In die seit Menschen Gedenken geführten Annalen verbrecherischer Kriege ist sie bereits eingeschrieben …

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Ihren Ausgangspunkt und damit zugleich das treibende Motiv ihrer Forschung hatte Tuchman gleich in den ersten Satz ihrer Einleitung gepackt: „Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, daß Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft.“ Eine Variation dazu folgt kurz darauf in Frageform: „Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?“

An grundlegenden Arten von Missregierung identifiziert Tuchman in diesem Zusammenhang zunächst folgende vier:

Tyrannei oder Gewaltherrschaft als historisch so häufige Erscheinungsform, dass die Autorin auf die Benennung von Einzelbeispielen verzichtet;

Selbstüberhebung wie im Falle des zweifachen Versuches der selbsternannten deutschen Herrenrasse, Europa zu unterjochen;

Unfähigkeit oder Dekadenz wie im späten Rom oder bei den letzten Romanows und schließlich

Torheit oder Starrsinn in Gestalt eines politischen Handelns, „das den Eigeninteressen des jeweiligen Staates und seiner Bürger zuwiderläuft“ – also all dem, „was dem Staatskörper zum Wohlergehen und zum Vorteil gereicht“.

Auf die letztere Spielart konzentriert Tuchman ihre Untersuchung, die sie darüber hinaus durch drei zentrale Kriterien weiter einkreist. Denen zufolge wird mit „dem Begriff der Torheit […] eine Politik […] nur dann belegt“, wenn –

erstens – diese Politik bereits zu ihrer Zeit als kontraproduktiv erkannt worden sei und nicht erst in nachfolgender historischer Betrachtung, denn „jede Politik ist abhängig von den Zeitumständen ihrer Epoche“;

zweitens – es zu dieser Politik „zu ihrer Zeit eine praktikable Handlungsalternative gab“ und

drittens – diese Politik „von einer Gruppe und nicht von einem einzelnen Regierenden betrieben worden“ sei und „über die politische Laufbahn eines Einzelnen hinaus Bestand“ habe; Torheit als bloß „individuell geprägtes Phänomen“ sei „eine verallgemeinernde Untersuchung“ nicht wert.

Dies vorausgeschickt, formuliert Tuchman ihr Fazit ebenfalls bereits in der Einleitung ihres Buches: „Das Auftreten der Torheit ist nicht an eine bestimmte Epoche oder einen bestimmten Ort gebunden; sie ist zeitlos und universell, wenngleich die Form, die sie annimmt, von den Lebensgewohnheiten und Anschauungen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes determiniert wird. Sie beschränkt sich nicht auf bestimmte Regierungsformen: Monarchie, Oligarchie und Demokratie bringen sie gleichermaßen hervor. Auch ist sie keine Eigentümlichkeit bestimmter Nationen oder Klassen. Wie sich in der neueren Geschichte deutlich gezeigt hat, übt die Arbeiterklasse, vertreten durch die kommunistischen Regierungen, ihre Macht nicht rationaler und nicht wirkungsvoller aus als das Bürgertum.“

Zum Abschluss ihrer Einleitung betont Tuchman: „Von Torheit kann man erst dort sprechen, wo uneinsichtig an einer Politik festgehalten wird, die nachweislich unwirksam ist oder direkt gegen die eigenen Ziele arbeitet.“ Und fügt hinzu: „Es erübrigt sich fast festzustellen, dass die vorliegende Studie durch den Umstand angeregt wurde, dass wir diesem Problem heutzutage auf Schritt und Tritt begegnen.“

Was Letzteres anbetrifft, provoziert Tuchmans Buch den Leser allerdings zu der mindestens rhetorischen Frage, ob dies in der Menschheitsgeschichte eigentlich jemals anders gewesen sein mag. Denn neben ihren zahlreichen kursorischen Fallgeschichten liefert die Autorin vier ausführliche Darstellungen, die, mit dem Trojanischen Krieg beginnend, über die Fehlleistungen der Renaissance-Päpste, die die Reformation heraufbeschworen, sowie der britischen Staatsführung zur Zeit Georgs III., die den Abfall der nordamerikanischen Kolonien provozierten, bis zur Niederlage der USA in Indochina reichen und somit einen Zeitraum von über 3000 Jahren umfassen. (Dass die Torheit der Herrschenden durchaus auch historisch Positives im Interesse ganz anderer Akteure bewirken kann, konzediert Tuchman dabei gleichwohl – wie etwa im Hinblick auf die Reformation von einer Protestantin auch kaum anders zu erwarten.) Wobei die „unüberschaubare Zahl von Fällen militärischer [Hervorhebung – H.H.] Torheit“, die die Geschichte verzeichnet, in ihrem Buch gänzlich ausgegrenzt bleibt, „weil sie den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würden“. Lediglich zwei besonders eklatante Fälle streift die Autorin – nämlich die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges durch Deutschland Anfang 1917 und den japanischen Überfall auf Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941. Beide Ereignisse hatten jeweils den Kriegseintritt der USA zur Folge – mit den bekannten Konsequenzen für den weiteren Kriegsverlauf …

Bei ihrer Suche nach dem Warum (Einsicht und Verstand bei politischen Entscheidungsträgern so häufig auf der Strecke bleiben) gelangt Barbara Tuchman zu folgender Erklärung: „Torheit ist ein Kind der Macht. Von Lord Acton stammt der bekannte Ausspruch ‚Macht korrumpiert‘. Weniger bewußt ist uns, daß die Macht häufig auch dumm macht und Torheit erzeugt; daß die Macht, Befehle zu erteilen, häufig dazu führt, das Denken einzustellen; daß die Verantwortlichkeit der Macht in dem Maße schwindet, wie ihr Handlungsspielraum wächst.“

Ein jüngeres Beispiel, wie das praktisch funktioniert, ist aus dem Umkreis des intellektuell hoch geschätzten Präsidenten Barack Obama überliefert: Der 2009 zum Sondergesandten der USA für Afghanistan und Pakistan ernannte Richard Holbrooke hatte in Indochina die Lektion gelernt, dass derartige Kriege militärisch nicht zu gewinnen und nur auf dem Verhandlungsweg zu beenden sind, und er wollte die entsprechenden Erfahrungen auch für die Debatten im Hinblick auf den Konflikt am Hindukusch produktiv machen. In seinem Audiotagebuch fand sich später diese Passage: „In den ersten Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates mit dem Präsidenten erwähnte ich ein paarmal Vietnam, und Hillary [Holbrookes damalige unmittelbare Vorgesetzte, Außenministerin Hillary Clinton – H.H.] teilte mir daraufhin mit, dass der Präsident keinerlei Bezugnahme auf Vietnam wünsche.“

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Die Rezeption von Tuchmans Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens war durchwachsen, zum Teil auch sehr kritisch. Eine Besprechung im Wochenblatt DIE ZEIT im November 1984 zum Beispiel endete folgendermaßen: „Mit ihrem allzu engen Begriff der politischen Torheit kann Barbara Tuchman der Geschichte nicht gerecht werden, auch nicht der Tagespolitik. Sie will es wohl auch gar nicht. Am Ende ihres umfangreichen Buches kommt sie zu dem mageren Ergebnis, das für sie von Anfang an feststand: ‚Wir können nur weiterwursteln, wie wir es in diesen drei- oder viertausend Jahren getan haben …‘ – Das mag so sein, aber um zu dieser ‚Erkenntnis‘ zu kommen, hätte Barbara Tuchman diese ‚Untersuchung‘ – wie sie ihr 550 Seiten dickes B  uch nennt – nicht schreiben müssen.“ Mit Gewinn lesen kann man es gleichwohl auch heute noch.

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Abschließend zurück zum Ukraine-Krieg Russlands. Wenn man daran die Tuchmanschen Torheitskriterien anlegt, ergibt sich folgendes Bild:

Erstens – Das erklärte Ziel der russischen Politik gegenüber der Ukraine spätestens seit 2008 (Bukarester Gipfel-Kommuniqué der NATO vom 3. April 2008: „Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder [die Ukraine und Georgien – H.H.] der NATO beitreten werden.“) besteht darin, ein weiteres Vorrücken des Nordatlantikpaktes in Richtung russischer Grenzen zu verhindern. Seit 2014 – Annexion der Krim durch Moskau sowie Unterstützung der prorussischen Insurgenten in der Ostukraine – liegt der kontraproduktive Charakter des eingeschlagenen Weges offen zutage: zusätzlich zu den seither verhängten und mehrfach verschärften wirtschaftlichen Sanktionen und internationalen Ausgrenzungen Russlands durch den Westen hat die NATO permanent Kampfverbände ins Baltikum und nach Polen verlegt, ihre Schnelle Eingreiftruppe verstärkt, die Anzahl und den Umfang ihrer Manöver vom Nordkap über die NATO-Ostflanke und die Ukraine bis ins Schwarze Meer deutlich gesteigert sowie die Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe für die ukrainischen Streitkräfte systematisch intensiviert. Vor diesem Hintergrund war völlig klar, dass ein direkter Überfall Moskaus auf Kiew zu einem weiteren Schub an konfrontativen militärischen Gegenmaßnahmen von NATO-Staaten führen würde. Eine solche Entwicklung ist nach dem 24. Februar rasch eingetreten: Die noch vor nicht allzu langer Zeit vom französischen Präsidenten als „hirntot“ bezeichnete NATO erlebt eine so von niemandem noch ernsthaft erwartete Renaissance. Finnland und Schweden werden dem Pakt beitreten. Neu stationiert werden NATO-Kampfverbände in der Slowakei, in Rumänien und Bulgarien. Die deutsche Bundesregierung will mit stark erhöhten Militärausgaben die Bundeswehr wieder kriegsfähig machen. Et cetera, et cetera …

Zweitens – Es gab bis zum Überfall vom 24. Februar 2022 eine „praktikable Handlungsalternative“: nämlich ernsthafte, von Moskau nicht nur geforderte, sondern auch so betriebene Verhandlungen zur Lösung der Ukraine-Frage. Und zwar ohne ultimatives Theater, wie es von Russland mit den der NATO und den USA im Dezember 2021 auf den Tisch geknallten sogenannten Vertragsentwürfen (ohne jegliche Spielräume für Kompromisse) praktiziert wurde. Einen entsprechenden Kurs hätte Moskau eigentlich spätestens nach Putins Philippika auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 einschlagen können, ja müssen, statt immer nur wieder die beleidigte Leberwurst zu geben und Warnungen vor roten Linien zu wiederholen. Und selbst am 23. Februar 2022 waren die Verhandlungsmöglichkeiten noch keineswegs ausgeschöpft, denn die Ukraine hatte zwar – nach russischen Angaben – große Teile ihrer Streitkräfte zu einer möglichen Rückeroberung um den Donbass konzentriert, doch hatten die USA in den Wochen und Monaten zuvor mehrfach öffentlich erklärt, keinesfalls mit eigenen Streitkräften zu intervenieren, sollte es zum Krieg mit Russland kommen. So musste auch aus Moskauer Sicht nicht damit gerechnet werden, dass der ukrainische Präsident den Fehler seines georgischen Kollegen von 2008 wiederholen, losschlagen und damit Russlands Eingreifen provozieren würde …

Drittens – Die in der hiesigen Politik und in den Medien vorherrschende alleinige Schuldzuweisung für den Überfall auf die Ukraine an die Adresse des russischen Präsidenten („Putins Krieg“) trifft nach Kenntnis des Verfassers dieses Beitrages die realen Machtverhältnisse in Moskau nicht. Richtiger dürfte Alexander Dubowy liegen, der in der Berliner Zeitung jüngst geäußert hat: „Die Führung der Russischen Föderation bildet eine heterogene Mischung aus unterschiedlichen, konkurrierenden Elitengruppen. In diesem System kommt Wladimir Putin die Rolle eines sehr einflussreichen Schiedsrichters und Moderators zu …“ Für „eine personalistische Diktatur“ hingegen sei „das gegenwärtige russische System […] viel zu komplex“.

Mit anderen Worten: Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur völkerrechtswidrig, ein Verbrechen, sondern auch eine klassische Torheit nach den Tuchmanschen Kriterien. Eine Torheit, an der Russland und die Welt schwer und lange zu tragen haben werden – selbst wenn es nicht zu einer weiteren militärischen Eskalation oder gar zum Einsatz von Atomwaffen kommt.