25. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2022

Selbstkasteiung statt Emanzipation

von Mario Keßler

John McWhorters Buch, das im englischen Original „Woke Racism. How a New Religion Has Betrayed Black America“ heißt, ist unter dem etwas entschärften Titel „Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“ kürzlich auf Deutsch erschienen. Worum geht es?

„Woke People“, also wachsame Menschen, sehen sich als einzig kompetente Kämpfer gegen den Rassismus in den USA; sie halten sich, so der Autor, „gewissermaßen für auserwählt, denn sie haben etwas begriffen, was die meisten nicht begreifen.“

Die von McWhorter gegeißelte Bewegung der „Woke People“ entstand an Universitäten der USA, breitet sich jedoch zunehmend in weitere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft aus. Diese dritte Welle des Antirassismus hat nach McWhorter nichts gemein mit den beiden ihr vorangegangenen: Die erste Welle war der Kampf gegen die Sklaverei, die im Bürgerkrieg 1861 bis 1865 gipfelte, die zweite die Durchsetzung der Bürgerrechte für Schwarze und die ihr folgenden Auseinandersetzungen der 1950er und 1960er Jahre. Im Unterschied zu diesen Kämpfen sei, pointiert McWhorter, die dritte Welle zutiefst reaktionär, denn für sie gelte die weiße Erbsünde: Wer weiß geboren sei, sei ein Kind weißer Privilegien.

Nach Ansicht der Ideologen der Woke-Bewegung sei das einzige Mittel der Emanzipation, das Weißen offen stünde, die ständige Selbstvergewisserung eines falschen Lebens, aus dem man sich nur durch Selbstkasteiung befreien könne. Dies geriet zu absurden Ritualen der Selbstanklage; so bezichtigten sich alle Jura-Professoren der Northwestern University in Evanston/Illinois im Jahre 2020 in einer Zeremonie selbst, „nicht nur privilegiert, sondern offen rassistisch zu sein“. Eine Konsequenz war die Einschränkung, dann die Abschaffung der Universitätspolizei (der viele Schwarze angehörten) als Instrument des Rassismus und infolge dieser Maßnahme die enorme Zunahme der Kriminalität auf dem Campus.

Der afroamerikanische Verfasser, ein an der Columbia University lehrender Romanist, wurde bezichtigt, Verrat an seinem schwarzen Volk zu üben. Für einen Weißen, auch für einen fest angestellten Professor, hätte eine solche Streitschrift aber ganz andere Konsequenzen gehabt: Seine berufliche Laufbahn und seine gesellschaftliche Stellung wären zerstört. Der Autor nennt eine Vielzahl von Beispielen, wo selbst eine moderate Kritik am Fanatismus des „Third-Wave-Antirassismus“ zur dauerhaften Feindschaft des linksliberalen Milieus führte.

Während selbst Solidarität weißer Menschen mit Opfern der Polizeigewalt wie George Floyd als heuchlerisch gebrandmarkt wird, so sie nicht mit Selbstanklage einhergeht, dürfen gefährliche schwarze Wirrköpfe wie Ta-Neshi Coates die Opfer der Angriffe auf das World Trade Center als „Naturkatastrophe“ bezeichnen, für die letztlich das rassistische System verantwortlich sei; wurde die Journalistin Nikole Hannah-Jones für ihre Behauptung gepriesen und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, die amerikanische Geschichte setze mit dem Beginn der Sklaverei in Nordamerika 1619 ein (die Jahreszahl stimmt historisch nicht; es gab um 1500 Sklaverei in den spanisch besetzten Teilen der späteren USA). Ihre Bewunderer, zu denen auch Weiße zählen, spinnen diesen Faden fort: Der Kampf um Unabhängigkeit von der britischen Krone sei der Kampf von Sklavenhaltern gegen ein Land gewesen, das drauf und dran war, die Sklaverei abzuschaffen (auch dies ist falsch; erste ernsthafte Einschränkungen gegen die Sklaverei erfolgten in beiden Ländern 1807).

Ein Zurschaustellen der eigenen Moral ersetze den Kampf um soziale Veränderungen, schreibt McWhorter; die Erzeugung ständigen Schuldbewusstseins diene auch als Mittel der Akkumulierung von gesellschaftlichem Kapital, zum Beispiel, wenn es um Stellenbesetzungen gehe. Eine angemaßte Opferrolle verstelle das Bewusstsein für wirkliche Opfer; Weiße, die gegen soziales Unrecht ankämpften, sollen aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen werden. Die neue Pseudo-Religion der „Wokeness“ ersetze das Klassenbewusstsein. Die Lust an Selbstbezichtigung und Unterwerfung sei ein Zeichen der Gegenaufklärung und laufe letztlich auf eine Selbstentwaffnung hinaus. Dieser Aspekt ist besonders wichtig angesichts des Versuches eines gesellschaftlichen Rollbacks durch die Trump-Anhänger.

In einem Beitrag für die New York Times betonte McWhorter, dass derartige Umtriebe der Rechten in die Hände arbeiten, die deshalb die „woke“ Pseudo-Linke vorerst gewähren lassen könne. Zudem sei die Reduzierung aller Widersprüche auf eine „schwarze Identität“ gar nicht weit entfernt von völkischen Konzepten der extremen Rechten.

McWhorter nimmt die Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) von seiner Kritik nicht aus: Insgesamt würden, schreibt er, relativ mehr Weiße als Schwarze zu Opfern polizeilicher Gewalt – die Statistiken des FBI zeigen jedoch ein anderes Bild und sind ohnehin mit Vorsicht zu sehen, da alle Zahlen zur Herkunft von Tätern und Opfern auf freiwilligen Angaben der jeweiligen Lokalbehörden beruhen. Zu überprüfen ist McWhorter These, die von Schwarzen an Schulen ausgehende Gewalt würde verschwiegen und Kritik daran werde als Rassismus verunglimpft. Den einzigen Punkt, den McWhorter ausspart, ist der Antisemitismus in Teilen von BLM; die Boykott-Kampagne gegen alle Israelis, selbst wenn sie die Friedensbewegung unterstützen, ist ein wachsendes Problem in der Bewegung. Auch die verbale und sogar physische Gewalttätigkeit gegen amerikanische Juden durch manche BLM-„Aktivisten“ hat zugenommen; wenngleich sie nicht massenhaft auftritt. Kritik daran aber gilt innerhalb der Bewegung ebenfalls als Rassismus.

Ist ein rationaler Diskurs mit den „Erwählten“ noch möglich? McWorther verneint das, hofft dennoch, dass einige dieser (schwarzen und weißen) Sektierer ihren Irrweg verlassen. Im Kampf um ihre Köpfe aber bedürfe es eines langen Atems. Ausgangspunkt gesellschaftlicher Reformen sei (einmal mehr) die gründliche Reform des Bildungswesens. McWhorters Überlegungen zur Verbesserung der Lesefähigkeiten und des integrativen Lernens zeigen die Erfahrungen des Hochschullehrers. Einem weiteren Vorschlag, der unbegrenzten Freigabe von Rauschgiften, um die Schwarzmarkt-Kriminalität und das Bandenwesen einzudämmen, möchte der Rezensent aber entschieden widersprechen. McWhorter erwähnt nämlich nicht die enormen Probleme der Therapie von Drogenabhängigen oder die Nöte des Fachpersonals in entsprechenden klinischen Einrichtungen. Mitunter schießt er übers Ziel hinaus: Sein Vergleich des „Wokism“ mit dem Stalinismus lässt die Proportionen der Kritik vermissen.

Der Kampf um politische und soziale Demokratie, und dies zeigt uns McWorthers Buch, braucht selbstbestimmte Vorbilder statt selbsternannter und -stilisierter Opfer. Nur wenn die Besinnung auf ethnische und nationale Identität dem Kampf aller Menschen um gesellschaftliche Befreiung nützt, hat dieser Kampf eine positive Funktion.

Es lohnt deshalb, an Amerikanerinnen und Amerikaner zu erinnern, für die, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe, die politische und soziale Emanzipation die Scheidelinie im Dafür und Dagegen war – an den Abolitionisten John Brown und an Abraham Lincoln, zwei Weiße, an schwarze Bürgerrechtler wie W. E. B. DuBois, C. L. R. James oder Martin Luther King, auch an Persönlichkeiten, die jede biologistische Erklärung für weiße Vorherrschaft widerlegten, wie Max Shachtman und Theodore W. Allen. Nicht vergessen werden dürfen die mutigen Frauen – gerade die schwarzen Frauen: Harriet Tubman, selbst 1849 der Sklaverei entflohen, half Sklaven, aus den Südstaaten in den Norden und nach Kanada zu flüchten; die Bürgerrechtlerin Rosa Parks führte noch im 20. Jahrhundert einen lange Zeit ungleichen Kampf gegen die „Rassentrennung“ im Süden der USA.

JohnMcWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Übersetzt von Kirsten Riesselmann, Hofmann und Campe, Hamburg 2022, 256 Seiten, 18,99 Euro.