Lebensspiele“ (2006) heißt das großformatige Gemälde von Gudrun Brüne, das die Augen der Besucher dieser Ausstellung gleich auf sich lenkt: Puppenköpfe, -körper, -beine, Masken, Kasperlefiguren liegen zu Haufen getürmt, gleichsam „entsorgt“. Man braucht sie nicht mehr. Ein Mann weist mahnend auf die Weltkugel, die über ihm und diesem szenischen Desaster schwebt, eine Paraphrase zu Caspar David Friedrichs zwei Männern, die ehrfürchtig den Mond betrachten. Links ein Mädchen, das wissend in den Spiegel schaut. Dagegen blicken die stilisierten Augen einer fast lebensgroßen Puppe odaliskenhaft den Betrachter an. Rechts Gudrun Brüne selbst mit ihrem Mann Bernhard Heisig, sie schaut als Malerin und Betrachterin zugleich kritisch abwägend in das turbulente Bildgeschehen hinein.
„Ich spreche über und durch Puppen und meine die Menschen“, sagt Gudrun Brüne. „Diese Puppen stehen für mich für den manipulierten, wehrlosen Menschen.“ Und wieder an anderer Stelle: „Der Einzelne, aber auch die Gruppen und Massen agieren nicht aus freiem Willen, sondern hängen an Strippen. Sie werden gesteuert oder gegängelt.“ Dem Motiv der Puppe gesellte sich bei ihr bald die Maske hinzu, die schon der belgische Avantgardist James Ensor als eine Allegorie menschlicher Leidenschaften betrachtete, und dann die Marionette. Schon früh hatte sich Gudrun Brüne von der Übermacht ihres Leipziger Lehrers Bernhard Heisig, der dann ihr Lebensgefährte wurde, gelöst, von dessen furiosem Pinselstrich, der Wut seiner Bilder, um zu einer eigenen Malweise zu kommen. Diese fand sie bei Otto Dix, eine lasierende, detailgenaue Malerei in Mischtechnik, mit der sie auch farbliche Tiefe erreichen konnte. Von der Leinwand ging sie zur Hartfaserplatte über. In ihren warnenden, mahnenden, auch abschreckenden Bildern wollte sie auch Schönheit, Harmonie und Ausgleich aufklingen lassen. Ihre Bilder sollen sich auch in einer auf die Zukunft gerichteten Botschaft entfalten. Der Mensch hat wieder zu lernen, das Unsichtbare zu sehen, das Wesentliche zu erkennen, das ihn als Menschen auszeichnet.
Symbole des Heils und der Wiedergeburt sind selbst im Gemälde „Zum letzten Abendmahl“ (2017) angelegt. Hinter Masken verbergen die Jünger ihr Gesicht, sie wollen nicht später als Verräter an Jesu erkannt und bezichtigt werden. Drei der zwölf Jünger könnten durchaus auch eine Frau sein. Jesus selbst ist als eine Puppe dargestellt, die gesichtslos bleibt. Rollenspiel und Maskerade sind an die Stelle von Christus als Identifikationsmodell getreten. Wie wird der Mensch die Heilsbotschaft wieder finden? Gudrun Brüne liebt das Doppelbödige, Zwiespältige, Mehrdeutige und überlässt die Deutung ihrer Abendmahlszene dem Betrachter.
Ihre Fetischfigur, die Puppe – sie kommt aus der Kindheit, aber auch aus dem Dunkel der Zeit, sie ist vertraut und fremd, verführerisch und erschreckend, sie zeigt sich in ihrer Veränderbarkeit: Sie kann ein kindliches Geschöpf und ein Monster sein, phantastisch und erschreckend real, verwandelbar und doch immer gleich, unschuldig und wissend, eine Gliederkonstruktion von ungeheurer Intensität. Ein Geschöpf, das Träume hervorruft und sie zerstört. Ein Objekt der Hingabe und der Gewalt. Ein Versuchsobjekt, das man nach Belieben auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, das man verstümmelt und zerstückelt, das sich mit einem undurchsichtigen Panzer gegen jede Berührung wehrt und dem Voyeur doch sein „Inneres“ preisgibt. Die Choreographie ihrer Befindlichkeiten und Zustände zeugt von einem vergangenen oder zukünftigen Drama.
Faszinierend aber ihrer Puppen „wissende“ Augen, denen nichts entgeht. Unablässig sehen diese Augen die Malerin an, beobachten ihr Tun, beunruhigen sie, fordern sie heraus. Das Auge wird von Gudrun Brüne als zentrales Organ unseres Erkennens der Welt begriffen und in absoluter Unabhängigkeit dargestellt.
Stets drängt sich die Wirklichkeit in das ikonographische System der Malerin; es ist zwar da, reproduziert die Bilder aber vordergründig genau. Es ist eine Gegenüberstellung von Realem und Irrealem, aber auch von „Bildern im Bild“, ein spiegelbildlicher Austausch zwischen Realität oder Illusion, mit der Absicht, dem Sinn und Irrsinn der Welt auf die Spur zu kommen. Kann man denn mit Intelligenz und Vernunft überhaupt das Chaos sichtbar und es überdies auch beherrschbar machen? Im künstlerischen Schaffensprozess geschieht dies durch das Stilmittel der Verfremdung („zur Kenntlichkeit entstellen“ hat Brecht die Verfremdung charakterisiert) und die psychologischen Filter der Ironie.
Recht einfach „Der Vorstand“ (2007): Da stehen sie in selbstbewusster Haltung, die Herren des Managements, in scheinbarer Einigkeit und Geschlossenheit, und ihre Tiermasken sollen ihre wahren Auffassungen verstecken und sie enthüllen sie zugleich. Brünes „Picassoide Puppe“ (2013) dagegen ist eine modisch herausgeputzte Puppe, aber mit zwei Gesichtern, so wie Picasso mehrere Bilder in eins zu verschmelzen verstand. Ihr maskenhaftes Antlitz, ihr undurchdringlicher Blick ist der Blick von Picassos „Mädchen von Avignon“ (1907), inquisitorisch, gleichgültig oder unnahbar. Nichts in ihrem Gesicht lässt sich als einladend oder gar kokett deuten. Es ist die psychische Realität, die hinter den Figurenbildern Brünes steckt. So auch „Die Umarmung“, zwei Akte, die Frau mit dem Rücken in inniger Umarmung des sich kaum aus dem dunklen Hintergrund lösenden Mannes, die Gesichter sind nicht erkennbar, die körperliche Umarmung geschieht mit einer ergreifenden psychischen Ausdruckskraft.
Wie haben wir „Sesam öffne dich (nach Guernica)“ (2020) zu verstehen? Picassos „Guernica“ (1937) war die machtvollste Diffamierung der Gewalt in der modernen Kunst. Seine Motive – die weinende Frau, das Pferd, der Stier – waren in den davorliegenden Jahren immer wieder in Picassos Werken aufgetaucht, bis sie dann in „Guernica“ zusammentrafen. Picasso hatte den monumentalisierten Schmerz ausschließlich in Schwarz, Weiß und Grau gemalt, was die Assoziation mit der Titelseite einer Zeitung aufkommen ließ. Und nun liegen in dem dreiteiligen Bild von Gudrun Brüne die Puppen, deren Köpfe, Rümpfe, Glieder wie auf einem Schlachtfeld vor uns, anklagend, farbig aggressiv und doch stumm.
„Malerinnen“ (2009), eine Hommage an die von ihr verehrten Künstlerinnen: Die mexikanische Malerin Frida Kahlo im Rollstuhl neben einem Bild mit einem Puppenkopf, Paula Modersohn-Becker als Halbakt und eine Malerin des 17. Jahrhunderts, an ihrem Bild arbeitend, es könnte die italienische Barockmalerin Elisabetta Sirani sein, die in Bologna eine Kunstakademie nur für weibliche Schüler gründete und in ihren Gemälden „starke Frauen“ aus der antiken Mythologie und der biblischen Geschichte bevorzugte. Dagegen blickt Gudrun Brüne mit einer Maske als Gegenüber aus einem Bild heraus den Betrachter an. Das „Bild-im-Bild“-Verfahren setzt hier einen komplizierten Beziehungs- und Verweisungsprozess frei.
Aber neben Puppen, Masken und Marionetten gibt es auch anderes zu sehen, Havellandschaften in großer Farbsinnlichkeit, Stillleben, in denen das Irrationale in die scheinbar geordnete Welt der Gegenstände einbricht, Vanitas-Bilder, die das Unsichtbare im Sichtbaren vergegenwärtigen. Gudrun Brüne zieht Auseinanderfallendes zusammen, bringt die Farben zum Klingen, so sagt es Claudia Hauptmann, die in den 1990er Jahren bei ihr Malerei an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle studierte. „Lebenskrisen, Angst, Einsamkeit, gesellschaftliches Unbehagen verwandelt ihre Produktivität in zupackende und betroffen machende Metaphern“.
Gudrun Brüne: Subjekte – Objekte. Galerie Auto & Art /Galerie Dinter, Nachtalbenweg 61, 13088 Berlin, Mo–Fr 10–18 Uhr, bis 24. Juni. Katalog.
Schlagwörter: Gudrun Brüne, Klaus Hammer, Malerei, Puppenspiel