Die letzte Sitzung des Büros der II. Internationale fand am 29. und 30. Juli 1914 in Brüssel statt. Aus Deutschland hatten Hugo Haase, neben Friedrich Ebert gleichberechtigter Vorsitzender der SPD und mit Philipp Scheidemann Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der Parteitheoretiker Karl Kautsky und Rosa Luxemburg teilgenommen, sie allerdings als Vertreterin der Sozialdemokratie Polens und Litauens. Thema der Sitzung war der drohende Krieg in Europa. Sie beschloss einen Aufruf an die Arbeiter der vom Krieg bedrohten Länder, den Kampf für den Frieden fortzusetzen. Die sozialdemokratische Presse verurteilte die „verbrecherische und verantwortungslose Politik“ Österreich-Ungarns, das Serbien am 23. Juli sein Ultimatum überreicht hatte, und lehnte eine deutsche Kriegsbeteiligung ab.
Da in Deutschland der Kriegszustand ausgerufen wurde und die sozialdemokratische Führung mit Verbot und Verfolgung wie unter dem Sozialistengesetz rechnete, wurden am 30. Juli Ebert und der Parteikassierer Otto Braun mit der Parteikasse in die Schweiz geschickt, um gegebenenfalls von dort aus die illegale Parteiarbeit organisieren zu können. Als klar war, dass sich dies erübrigte, kehrten Ebert am 6. und Braun am 10. August zurück.
Am 31. Juli fand in Berlin eine gemeinsame Sitzung des Partei- und Fraktionsvorstands statt, um zu beraten, wie man reagieren sollte, wenn die Regierung den Reichstag um die Bewilligung von Kriegskrediten bitten würde. Zu einer Entscheidung kam es nicht, weil die Regierung noch keine Vorlage geliefert hatte. Allerdings vertrat nur ein einziger Teilnehmer die Auffassung, bei Kriegsausbruch die Regierung zu unterstützen, alle anderen waren dagegen, einige für Stimmenthaltung. Zum Zeitpunkt dieser Beratung war aber noch nicht bekannt, dass Russland bereits mit der Generalmobilmachung begonnen hatte. Nachdem das um die Mittagszeit mitgeteilt wurde, kippte die Stimmung.
Russlands Regierung und seine Militärführung schätzten ein, dass das Land angesichts seiner Größe, seiner weiten Wege und vergleichsweise zurückgebliebenen Infrastruktur länger für die Mobilisierung brauche als Deutschland. Umgekehrt gingen Reichsleitung und Generalstab in Deutschland davon aus, dass es unverzüglich nachziehen müsse, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. So erklärte Deutschland Russland am 1. August 1914 den Krieg.
Am 2. August trat der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zusammen, um die für den Folgetag anberaumte Fraktionssitzung vorzubereiten. Dort sollte die Position zu den inzwischen von der Regierung beantragten Kriegskrediten beschlossen werden. Scheidemann hatte zuvor eine interne Unterredung mit Reichskanzler von Bethmann Hollweg und wandelte sich vom Ablehner zum Befürworter der Kriegskredite; er war zu diesem Zeitpunkt der einflussreichste der in Berlin anwesenden Parteiführer. Alle Abgeordneten erhielten am 3. August von der Regierung eine „Vorläufige Denkschrift und Aktenstücke zum Kriegsausbruch“. Die Papiere waren so ausgesucht und frisiert, dass deutlich gemacht wurde, „wie Russland Deutschland hinterging und den europäischen Krieg entfesselte“.
Die russische Problematik war so entscheidend. Traditionelle Position der Sozialdemokratie war, einen preußisch-deutschen Angriffskrieg abzulehnen, sich jedoch zur Wehr zu setzen, wenn es um die Verteidigung gegen das reaktionäre Zarenreich gehe. Dies ging bereits auf Marx und Engels zurück und wurde stets von August Bebel vertreten. In der sozialdemokratischen Fraktion wurde zur Begründung für Vaterlandsverteidigung und Befürwortung der Kriegskredite beschlossen, gegen den drohenden „Sieg des russischen Despotismus“ gelte es, „die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen“. Ein von Kautsky – der kein Abgeordneter war, aber als marxistischer Schriftgelehrter regelmäßig an den Fraktionssitzungen teilnahm – formulierter Passus, dass die Zustimmung nur für die Vaterlandsverteidigung, nicht aber für ein Umschlagen in einen Eroberungskrieg gelte, wurde auf Bitten der Regierung gestrichen. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, sie könnte einen Eroberungskrieg führen. Der Parteivorsitzende Haase, eigentlich Gegner von Krieg und Kriegskrediten, musste die Zustimmungsrede im Reichstag halten: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“ Verordnet war Fraktionszwang, auch Karl Liebknecht stimmte zu. Seine berühmte öffentliche Ablehnung erfolgte in einer späteren Reichstagssitzung im Dezember 1914.
Eine eigene Wirkung entfaltete der Kriegsverlauf. Eigentlich sah die deutsche Kriegsplanung einen raschen Sieg im Westen vor, um sich dann dem Osten zuwenden zu können. Der Krieg im Westen blieb jedoch an der Marne stecken, während die deutschen Truppen in Ostpreußen zunächst eine Niederlage erlitten. Daraufhin wurden rasch neue Streitkräfte zusammengestellt, die Ende August, Anfang September 1914 bei Tannenberg und in Masuren die russischen Streitkräfte vernichtend schlugen. Beide Seiten machten sich bereits zu Beginn des Krieges Übergriffen auf die Zivilbevölkerung schuldig, zerstörten Städte und ermordeten Bewohner. In Deutschland hießen diese „Kosakengräuel“, tausende Kriegspostkarten zeigten die Zerstörungen von Städten und Dörfern in Ostpreußen und huldigten dem genialen Feldherrnduo von Hindenburg und Ludendorff. Diese Berichte verstärkten das „seit Kriegsbeginn populäre anti-russische Feindbild in Deutschland“ (so der Historiker Jörn Leonhard). Daran konnte die Nazi-Propaganda später anknüpfen. Otto Braun, nach der Novemberrevolution 1918 viele Jahre Preußens Ministerpräsident, schrieb im August 1914: „Sollen diese halbasiatischen, schnapsgefüllten Kosakenhorden die deutschen Flure zerstampfen, deutsche Frauen und Kinder martern, die deutsche Kultur zertreten?“
In seinem Spätwerk: „Sozialisten und Krieg“ (1937) stellte Kautsky auch seine Sicht auf die Ereignisse im Sommer 1914 nochmals ausführlich dar. Darin widersprach er der Position Rosa Luxemburgs und des Spartacusbundes, die sozialdemokratischen „Führer“ hätten die Massen „verraten“. Seiner Meinung nach trat der Stimmungsumschwung bei den Massen früher ein als bei den Führern. Jetzt war „der Krieg da, wider ihren Willen und nicht mehr aufzuhalten. Jetzt handelte es sich praktisch nicht mehr um die Frage: Krieg oder Frieden, sondern darum, ob Niederlage oder nicht. So entsetzliche Leiden der Krieg auf alle Fälle brachte, so musste doch eine Niederlage im Krieg die schlimmsten aller Gräuel bringen, den Einbruch der Feinde ins eigene Land, dessen Verwüstung und Vergewaltigung, den völligen Ruin der Nation. Den Feind abzuwehren, das erschien jetzt als die erste und höchste Pflicht.“
Den allgemeinen Stimmungsumschwung sah er „wohl vor allem in der Panik und Hysterie begründet, den der Krieg hervorrief“. Dies sei jedoch nicht die einzige Ursache gewesen. „Nicht wenig trug zu ihm bei die Informierung des Volkes durch die deutsche Regierung und ihre Organe seit dem 31. Juli, als der Kriegszustand der Pressefreiheit ein Ende machte.“ Es sei einiges „an Lügen damals geleistet“ worden, „ohne die Möglichkeit, sie aufzudecken“. „Diese Unwahrhaftigkeit verbesserte nicht die Position der deutschen Regierung im Auslande, wo sie dadurch besonders verächtlich erschien. Im Inland jedoch erweckte die Regierung mit ihren Mitteilungen die Überzeugung, das Deutsche Reich sei überfallen worden […]. Das deutsche Volk sei dem Untergang geweiht, wenn es ihm nicht gelinge, den Ansturm abzuwehren.“
Historische Vergleiche hinken. Aber für spätere Analysen des ukrainischen Krieges Russlands a posteriori ergeben sich interessante Parallelen für die Untersuchung von Beweggründen und Hintergründen, die nicht aus den Augen verloren werden sollten.
Schlagwörter: Erhard Crome, Erster Weltkrieg, Karl Kautsky, Kriegskredite, SPD, Vaterlandsverteidigung