Wie verläuft die Entwicklung einer Persönlichkeit? Wodurch wird sie bestimmt? Das sind nicht nur rein psychologische Fragestellungen. Auch jeder Biograph muss darauf Antworten finden. Sabine Doering, langjährige Präsidentin der internationalen Hölderlin-Gesellschaft, hat sich dieser Herausforderung in ihrem jüngsten Buch über Friedrich Hölderlins Jugendjahre gestellt. Ihre Eingangsfrage lautet: „Wann erfuhr er die Prägungen, die ihn zu einem der originellsten und erstaunlichsten Autoren der europäischen Moderne werden ließen?“ Wenn man Hölderlins Leben als eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen betrachten könnte, wenn es darin eine Zwangsläufigkeit gäbe, die das individuelle Leben mit allen Widersprüchen und Zufälligkeiten auf einen „fassbaren Nenner“ brächte, dann ließe sich wohl schnell eine Antwort finden. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, stellt Doering fest, „dass jede Zeit, auch unsere eigene, spezifische Denkweisen und Blickrichtungen entwickelt, von denen sich niemand freimachen kann“.
Bevor sie sich seinem Lebenslauf zuwendet, wirft Doering einen Blick auf die Herkunft Hölderlins, insbesondere geht sie auf die materiellen Verhältnisse der Familie ein. In der Öffentlichkeit hat sich das Bild vom „armen“ Hölderlin festgesetzt. Richtig ist, dass er nie als reicher Mann auftrat. Zwar konnte er seit Kinderjahren als vermögend gelten, doch die von der Mutter vorgelebte Sparsamkeit und die damit einhergehende Angst vor finanzieller Abhängigkeit bestimmten von Beginn an seinen Lebensweg und standen dem Wunsch nach einem freien, unabhängigen Dichterdasein entgegen. Dass er jemals einen Überblick über die Höhe seines Besitzes erlangte, darf bezweifelt werden.
Hölderlins Ausbildungsweg erstreckte sich über fast zwei Jahrzehnte. Erzogen im Sinne einer ihm von Kirchenvertretern schon früh nahegebrachten gemäßigten pietistischen Frömmigkeit, trat er als Fünfjähriger im Frühjahr 1775 in die Nürtinger Lateinschule ein. Nach Stationen in den Klosterschulen von Denkendorf (1784–1786) und Maulbronn (1786–1788) kam er zum Theologiestudium ans Tübinger Stift. Im Verlauf dieser vielen Jahre fand er unter Lehrern und Mitschülern wichtige Gesprächspartner und Freunde, die ein immer stärkeres Gegengewicht zu den Vorstellungen und Erwartungen seiner Familie, insbesondere seiner Mutter, bildeten. Schon in Denkendorf wurde Hölderlin sich zudem seiner sprachlichen Begabung und seiner wahren Neigung bewusst. Diese Entwicklung insgesamt bewertend heißt es am Schluss von Doerings inhaltsreicher und anregender Studie folgerichtig: „Ausgerechnet der so streng reglementierte, oft kritisierte Unterricht der Klosterschulen ließ Hölderlin also sein dichterisches Talent erkennen“.
Sabine Doering: Friedrich Hölderlin – Biographie seiner Jugend. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 404 Seiten, 32,00 Euro.
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Fällt der Name Schopenhauer, denkt man zuerst an den Philosophen. Will man etwas über dessen Leben und Werk erfahren, kann man auf umfangreiche Sekundärliteratur zurückgreifen. Doch was ist mit seiner Familie, den Eltern und Geschwistern? Zwar lässt sich auch da einiges finden – zumal Mutter und Schwester gleichfalls von sich reden machten –, doch eine regelrechte Familiengeschichte suchte man bisher leider vergebens. Diese Lücke hat die durch ihre biographischen Arbeiten bekannte Literatur- und Medienwissenschaftlerin Anett Kollmann jetzt geschlossen. Auf der Grundlage überlieferter Tagebücher und Briefe, ergänzt durch zahlreiche Dokumente und die Erinnerungen von Zeitgenossen, wird ein Jahrhundert Familiengeschichte lebendig. In geradezu romanhafter Weise erzählt Kollmann von vier außergewöhnlichen Persönlichkeiten.
Die Geschichte beginnt in Danzig. Im Juni 1747 wird dort Heinrich Floris Schopenhauer geboren. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder gründet er 1773 das Handelsunternehmen „Gebrüder Schopenhauer“ und setzt damit die vom Großvater begründete Kaufmannstradition fort. Er ist fast vierzig Jahre alt, als er 1785 die Tochter des Großkaufmanns und Ratsherrn Christian Heinrich Trosiener heiratet. Johanna ist noch keine neunzehn, hübsch und wohlerzogen, für beide – das ist ihnen klar – ist es eine reine Versorgungsehe.
Am 22. Februar 1788 kommt ihr erstes Kind zur Welt. Arthur ist noch keine fünf Jahre alt, als die Familie auf Grund der politischen Verhältnisse nach Hamburg flieht. Eine schwere Zeit bricht an. „Johanna war keine Frau, die im Mutterglück aufging“, meint Kollmann und schreibt: „Der Abschiedsschmerz des Kindes fand im neuen Alltag der Familie wenig Trost und Verständnis. Den Vater nahm sein Handelshaus in Anspruch, die Mutter warf sich voller Freude ins Gesellschaftsleben.“ Für den Sohn waren Kinderfrau und Hauspersonal zuständig. Nicht anders wird es auch die am 12. Juni 1797 geborene Tochter Luise Adelaide Lavinia, kurz Adele genannt, erleben.
Als der Vater im April 1805 stirbt – ob es ein Unfall war oder er den Freitod wählte, ist bis heute unklar – kann die Mutter zum ersten Mal selbst über ihr Leben bestimmen. Sie löst die Firma auf, verkauft ihr Haus und zieht mit den Kindern in eine Wohnung ans andere Ende der Stadt. Nach Ablauf des Trauerjahres macht sie sich auf die Suche nach einem neuen Wohnort für sich und die Tochter, Arthur bleibt zunächst in Hamburg. Die Wahl fällt auf Weimar. Am 12. November 1806 lädt Johanna dort zum ersten „Theetisch“ ein, unter den Gästen ist auch Goethe.
Wie ging die Geschichte weiter? Arthur begann im Herbst 1809 in Göttingen sein Studium. Fünf Jahre später – sie hatten sich mehr und mehr auseinandergelebt – kam es zum endgültigen Bruch zwischen Mutter und Sohn. Ab 1820 lehrte er an der Berliner Universität, doch kaum ein Student verirrte sich in seine Vorlesungen. Gegen seinen Lieblingsfeind Hegel kam er nicht an. Es waren frustrierende Jahre für Arthur. Kollmann beschreibt sie als „die Tragödie eines brillanten Geistes, der sich immer wieder ins Abseits beförderte“. Schopenhauer selbst meinte 1836: „Man hat sich bestrebt, mich zu ignorieren, und ist sich einig, mich zu ersticken.“
Johanna entdeckte die Schriftstellerei für sich. Im Dezember 1829 unterzeichnete sie einen Vertrag über die Ausgabe ihrer „Sämmtlichen Schriften“, immerhin werden es 24 Bände. Von ihren Bekannten fast vergessen stirbt sie am 16. April 1838. Nur sechs Leute folgten ihrem Sarg.
Adele, die nie eine systematische Bildung erhalten hat, die gefangen in der Tochterrolle war und stets im Schatten der Mutter stand, lernte im Januar 1828 in Köln die gleichaltrige Sibylle Mertens-Schaafhausen kennen – eine Bekanntschaft, die ihr Leben verändern sollte. „Ich habe wieder“, schrieb Adele ihrer Freundin Ottilie von Goethe, „eine menschliche weiche Neigung in meinem vom Kummer versteinten Herzen.“ In ihren letzten Lebensmonaten wird sie von Sibylle liebevoll umsorgt. Am 25. August 1849, elf Jahre nach der Mutter, stirbt Adele in Bonn.
Im März waren sich Bruder und Schwester ein letztes Mal begegnet. Arthur, der kurz vor seinem Ableben die dritte überarbeitete Auflage seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“ abschließt, findet man am 21. September 1860 in seiner Frankfurter Wohnung tot auf dem Sofa.
Und was hat es mit dem Titel des Buches „Point de bonheur sans liberté“, sprich „Kein Glück ohne Freiheit“, auf sich? – Lesen Sie selbst, es lohnt sich!
Anett Kollmann: Kein Glück ohne Freiheit – Die Familie Schopenhauer. Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022, 301 Seiten, 25,00 Euro.
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Mit der mehr als vierzig Bände umfassenden Nietzsche-Gesamtausgabe verbindet man vor allem zwei Namen: Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Ihre Bekanntschaft reichte bis in den Herbst 1942 zurück. In diesem Jahr trat der bürgerliche Privatgelehrte Colli seine Stelle als Philosophielehrer am Machiavelli-Gymnasium im toskanischen Lucca an. Der nur zwölf Jahre jüngere, aus einem proletarischen Elternhaus stammende Montinari war einer seiner Schüler. Rückblickend wird er über diese Zeit schreiben: „Damals hat Giorgio meinem Leben für immer sein Siegel aufgedrückt.“ Im November 1945 trennten sich ihre Wege. Montinari bestand die Aufnahmeprüfung für die Scuola Normale und ging nach Pisa. Erst ein Jahrzehnt später, am 16. Juni 1956, trafen sie sich durch Zufall auf einer Beerdigung wieder.
Im März 1957 notiert Colli in seinem Tagebuch: „Lust zu kämpfen. Rückkehr zu Nietzsche.“ Eine besondere Vorliebe hegt er für Nietzsches unveröffentlichte Aufzeichnungen, ist er doch der Meinung, dass dieser seine tiefsten Intuitionen an der „Grenze des Unausdrückbaren“ nur seinen Notizbüchern anvertraut habe. Montinari seinerseits will die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die es um das Werk bis dahin gibt, ignorieren und zum „echten Nietzsche“ zurück. Dabei treibt ihn, gesteht er Colli, eine „wütende Leidenschaft für die Wahrheit“ an. Nach einigem Hin und Her ist ein Verleger gefunden. Bei Einaudi, dem Suhrkamp Verlag Italiens, kann man sich vorstellen, eine italienische Übersetzung auf der Grundlage bereits vorliegender Editionen herauszubringen. Ende 1960 werden die Mittel für eine Sichtung in Weimar bewilligt.
Im Frühjahr 1961 reist Montinari zum ersten Mal dorthin. Untergebracht wird er in den Räumen des heutigen Nietzsche-Archivs. Begeistert schreibt er an Colli: „Ich war auf eine ganz eigene, unaussprechliche Weise bewegt, als ich zum ersten Mal ein Manuskript von Nietzsche in den Händen hatte, und noch einmal, als ich die Schwelle dieses Hauses überschritt.“ Helmut Holtzhauer, damals Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, unterstützt ihn bei den bürokratischen Formalitäten und wird „so etwas wie der inoffizielle Schirmherr des Editionsprojektes“.
Anders als vorausgesagt findet sich „keine Spur von Sekretierung, Überwachung oder weltanschaulicher Gängelung“. Montinari, in ständigem Kontakt mit Colli, hat freie Hand, unterliegt allerdings „einer Art inoffizieller Schweigepflicht“. Um seine selbstgestellte Aufgabe ohne größere Unterbrechungen vorantreiben zu können, übersiedelt er 1965 nach Weimar. Nach langwierigen Verhandlungen wird Ende des Jahres der Vertrag mit dem De Gruyter Verlag unterzeichnet. Bewegt und erleichtert erklärt Montinari: „Erst mit der deutschen Edition bekommt meine Arbeit all dieser Jahre einen Sinn“.
Philipp Felsch, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, hat den Titel für seine herausragend erzählte, in den Zeiten des Kalten Krieges spielende „Geschichte einer Rettung“ nicht von ungefähr im Rückgriff auf John le Carré gewählt. Hatte doch Nietzsches „Wiederentdeckung“ durch Colli und Montinari – der im Übrigen seit 1964 von der Staatssicherheit observiert wurde – durchaus etwas von einem Thriller.
Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam – Geschichte einer Rettung. Verlag C. H. Beck, München 2022, 287 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Anett Kollmann, Hölderlin, Mathias Iven, Nietzsche, Philipp Felsch, Sabine Doering, Schopenhauer