25. Jahrgang | Nummer 11 | 23. Mai 2022

Heinrich Seidel – der Dichter-Ingenieur

von Frank-Rainer Schurich

Von der geheimnisvollen und untergegangenen Welt Heinrich Seidels wissen wir heute kaum noch etwas. Das Leben Heinrich Seidels lohnt eine Erinnerung: Er wurde vor 180 Jahren am 25. Juni 1842 in dem kleinen Dorf Perlin, zwischen Schwerin und Wittenburg gelegen, geboren und starb am 7. November 1906 in Großlichterfelde. Viele Straßen mecklenburgischer Städte sind nach ihm benannt worden. Auch in Berlin-Steglitz, zu dem Lichterfelde als Ortsteil nun gehört, gibt es am Markusplatz eine Heinrich-Seidel-Straße, denn er war einst als Student ein Berliner geworden.

Dichter-Ingenieur, wie wird man das? Edmund Schroeder hat das in seinem Vorwort zu einem Märchenbuch (Schwerin 1947) sehr gut beschrieben: „Heinrich Seidel begnügt sich nicht mit nur in groben Umrissen hingeworfenen Bildern. Er hat scharfe Augen. Er sieht das, was den meisten Menschen verborgen bleibt, was ihnen so unwichtig vorkommt, das Feine und das Kleine.“ Mit Geduld, Kühnheit, Scharfsinn und Phantasie widmete er sich all seinen Projekten. Er führte, wie er selbst einmal zugab, ein „sonderbares Doppelleben“, und das kam so:

Am Polytechnikum in Hannover (1860–1862) studierte er Maschinenbau, war dann (nach dem Tod des Vaters auf Druck der Familie) einfacher Maschinenbaulehrling und arbeitete insgesamt vier Jahre in Maschinenfabriken in Güstrow (1862–1864). Diese Versetzung aus der Ungebundenheit der akademischen Freiheit in das enge Lehrlingsdasein einer kleinen Fabrik empfand er aber nicht als sozialen Abstieg, sondern als Chance. Er war ein Leben lang stolz, am Amboss und an der Drehmaschine gestanden und sich so in der reinen Praxis zum Konstruktionstechniker am Zeichentisch emporgearbeitet zu haben.

An der Gewerbeakademie Berlin setzte er schließlich seine Studien fort und wurde 1868 Ingenieur, um dann bei zwei Eisenbahngesellschaften (Berlin-Potsdamer Bahn und Berlin-Anhaltinische Bahn) als Konstrukteur Meisterstücke abzuliefern. Als genialer Architekt entwarf er so Eisenbahnbrücken über die Yorckstraße und das Hallendach des Anhalter Bahnhofs, mit einer Spannweite von 62,5 Metern breiter als die Allee „Unter den Linden“. In seinen Lebenserinnerungen, die übrigens Von Perlin nach Berlin (1894 in Leipzig erschienen) heißen, notierte Heinrich Seidel, dass diese Maße bis dahin auf dem Kontinent beispiellos waren. Größer waren nur noch der Hauptbahnhof von Birmingham und St. Pancras in London – Bahnhöfe, die auch heute noch bestaunt werden können.

Der Anhalter Bahnhof dagegen, von dem nur noch die Ruine des Portikus erhalten ist, wurde im Krieg schwer beschädigt, die funktionstüchtige Halle dann trotz starker öffentlicher Proteste 1959 abgerissen. Im damaligen Westberlin kümmerte man sich nur sehr dürftig um den Denkmalschutz. Die vier Hallenwände hatten den Krieg überstanden; am 15. März 1948 wurde die Dachkonstruktion des Anhalter Bahnhofs gesprengt, was man damals noch als Maßnahme für den Wiederaufbau interpretierte …

Im Jahr 1880 gab er seinen Ingenieurs- und Konstrukteursberuf auf und war nur noch als Schriftsteller tätig. Schon als junger Mann schrieb der vielseitig begabte Seidel Märchen wie Die kleine Marie (1868) oder Das Hünengrab (1873). Das Sommermärchen (1863/64) hatte eine Zeitschrift bereits in seinen Güstrower Jahren abgedruckt.

Er las viel, wobei er sich zu Dichtern wie Theodor Storm, Edgar Allan Poe, Wilhelm Raabe und vor allen Dingen zum dämonischen Romantiker E. T. A. Hoffmann hingezogen fühlte. Zu Theodor Storm stand er im brieflichen Kontakt, und dieser übermittelte regelmäßig gut gemeinte Kritiken zu Seidels literarischen Schöpfungen. Einmal wurde eine Novelle sogar vom großen Storm gelobt.

Und Theodor Storm war es, der ihn davor warnte, seinen wirtschaftlich sicheren Beruf als Techniker aufzugeben und sich in die Freiberuflichkeit zu stürzen. Aber der Drang, es auch als Dichter zu versuchen, war größer.

Am Anfang dieser neuen Etappe standen wieder Märchen und Phantasiewelten, die aber von der Wirklichkeit des Menschen ausgingen. Nur so konnte Heinrich Seidel ein genialer Techniker und ein geborener Märchendichter sein, der aus Kindheitstagen in Perlin eine große Naturverbundenheit mit in das schriftstellerische Schaffen nahm. Käfer, Schmetterlinge, Vögel, der blaue Sommerhimmel und die anmutigen und düsteren Wolken – all das gehörte zum frühen Erfahrungsschatz des Dichters. Seidel war ein so hervorragender Vogelkenner, dass er gelegentlich sogar für ornithologische Fachzeitschriften schrieb.

Aller Anfang war schwer, aber bald stellten sich die ersehnten Erfolge ein. Der Techniker und Konstrukteur Seidel war schnell vergessen, zu Ruhm erlangte er durch seine Dichtungen. Seine Idyllen aus dem kleinbürgerlichen Leben, zum Beispiel im Roman „Leberecht Hühnchen“, machten ihn damals zu einem sehr bekannten und wirtschaftlich gut situierten Mann. Seine Werke sind mit ihrer naiv-optimistischen Weltanschauung und ihrer humorvollen, frischen, ungekünstelten Stimmung schnell allgemein beliebt geworden. Die Gesammelten Schriften (1899 bis 1907 in Leipzig, später in Stuttgart erschienen) umfassen 20 Bände!

Für Heinrich Seidel war seine schriftstellerische Arbeit wohl auch eine Flucht aus den damaligen komplizierten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Nichtsdestotrotz hat er die Herzen der Leser weit geöffnet, weil er sich dem Geringen, dem Fernen, dem Geheimnisvollen und Verborgenen widmete. Und er hatte zeit seines Lebens immer Hochachtung vor den einfachen Menschen.

Als im Jahr 1904 ein großer Berliner Verlag einen Märchenwettbewerb ausschrieb, löste das ein gewaltiges Echo aus. Seidel war unter den Preisrichtern, und es war ihm eine große Freude, dass als bestes Märchen die Dichtung eines Arbeiters preisgekrönt wurde.