Es sollte seine erste Reise ins westliche Ausland werden. Geboren in Brody, am östlichsten Rand des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches, hatte ihn sein Weg über Lemberg und Wien zu Beginn der Zwanzigerjahre nach Berlin geführt. Und nun also Paris.
Im Auftrag der Frankfurter Zeitung reist Joseph Roth im Mai 1925 in die französische Hauptstadt. Er ist überwältigt von der Atmosphäre der Seinemetropole. Kaum angekommen schreibt er einen langen Brief an Benno Reifenberg, den Feuilletonchef der Zeitung. „Wer nicht hier war“, heißt es darin, „ist nur ein halber Mensch und überhaupt kein Europäer.“
Im Juli verlässt er Paris in Richtung Provence. Er will mehr vom Land sehen und er will darüber schreiben. In Lyon, seiner ersten Station, beobachtet Roth die Wäscherinnen an der Rhône. Ihm kommt es vor, so kommentiert er das Gesehene, „als stünden diese Frauen hier, um den ganzen Tag die Seele der Einwohner von Lyon sauber zu halten“. Über Vienne, wo er sich fast zwei Wochen aufhält, geht es weiter nach Tournon. Er ist nicht nur beeindruckt von dem Gewirr der Gassen, sondern hat zugleich das Gefühl, dass die Zeit dort stehengeblieben ist. Die nächsten Stationen sind Avignon, Les Baux, Nimes und Arles. In Tarascon besucht Roth das auf eine jahrhundertealte Tradition zurückgehende Fest der „Tarasque“. Dieses sagenhafte, angeblich von der Heiligen Martha bezwungene und von der Bevölkerung verehrte Untier hat, folgt man seiner Beschreibung, „einen Löwenkopf und den Panzer einer Schildkröte, den Bauch eines Fisches und im Innern dieses Ungeheuers sitzen sechs Männer“. Beaucaire, einstmals der größte Jahrmarkt des Orients und des Okzidents, erlebt Roth als eine Stadt, die erfüllt ist „vom kleinmütigen Misstrauen gegen Fremde“. Schließlich erreicht er Marseille. Hier trifft er auf „eine Welt, in der das Abenteuerliche alltäglich und der Alltag abenteuerlich ist“. Frankreichs Süden sollte ihn nicht mehr loslassen. Am Schluss von Roths Manuskript wird es heißen: „Nirgends wird man so leicht heimisch. Und selbst wer das Land verlässt, nimmt das Beste mit, das eine Heimat mitgeben kann: das Heimweh.“
Unter dem Titel „Im mittäglichen Frankreich“ wurden Roths Reiseberichte im Feuilleton der Frankfurter Zeitung veröffentlicht. Dabei wollte er es jedoch nicht belassen. Im August 1925 schrieb er an Reifenberg: „Ich habe Material für ein schönes Buch mit dem Titel: ,Die weißen Städte‘ für den Buchverlag. Ich weiß aber nicht, ob der Verlag noch Bücher drucken wird, in denen solche Töne rauschen, wie in meinen Dingen. Ja, ich sehe, daß die Luft in Dtschld. sehr dick geworden ist.“
Er sollte Recht behalten: Reifenberg lehnte ab. Der Berliner Verlag „Die Schmiede“, der 1924 bereits Roths Romane Hotel Savoy und Die Rebellion veröffentlicht hatte, signalisierte ein Interesse. Zusammen mit Roths Essay „Juden auf Wanderschaft“ wurde das Buch für 1927 angekündigt – der Essay erschien, die Drucklegung der Weißen Städte wurde hingegen durch ein zwischenzeitlich eröffnetes Konkursverfahren verhindert. Nunmehr übergab Roth das mit zahlreichen Korrekturen versehene Typoskript seinem Freund Hermann Kesten, der als Lektor für den Verlag von Gustav Kiepenheuer tätig war. Als neuer Erscheinungstermin wurde das Jahr 1933 ins Auge gefasst. Doch durch Hitlers Machtergreifung wurde schließlich auch dieser Plan zunichte gemacht.
Es grenzt an ein Wunder, dass Roths Aufzeichnungen nicht den Wirren der Geschichte zum Opfer gefallen sind. Als Teil des sogenannten „Berliner Nachlasses“ gehört der 85 Seiten umfassende Text heute zum Bestand des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Der mit Leben und Werk von Joseph Roth bestens vertraute Literaturwissenschaftler Volker Breidecker hat das vorhandene Material durchgesehen, für die Veröffentlichung aufbereitet und mit einem umfangreichen entstehungsgeschichtlichen Nachwort versehen. Nach fast einhundert Jahren liegen Die Weißen Städte somit erstmals gedruckt vor. In der wohlfeilen Ausgabe der Anderen Bibliothek findet sich zudem Roths Essay „Juden auf Wanderschaft“ sowie eine frühe, 1934 im von Leopold Schwarzschild herausgegebenen Neuen Tage-Buch erschienene Fassung der Erzählung „Der Leviathan“. Das 1933 im Exil geschriebene Vermächtnis „Autodafé des Geistes“ schließt den Band ab.
Dank an den Herausgeber und den Verlag. Mit dieser Ausgabe lässt sich Joseph Roth einmal mehr als feinfühliger Beobachter des Alltäglichen entdecken, der immer auch ein Seismograph politischer Entwicklungen war.
Joseph Roth: Rot und Weiß – Wanderer zwischen Städten. Die Andere Bibliothek Bd. 446, Berlin 2022, 334 Seiten, 44,00 Euro bzw. ebenda als Extradruck, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Frankreich, Joseph Roth, Mathias Iven, Volker Breidecker