So siegreich endete der Russisch-Türkische Krieg von 1877/78 für den Zaren in Petersburg: Das Osmanische Reich musste im Frieden von San Stefano harte Bedingungen unterschreiben. Serbien, Montenegro und Rumänien wurden durch türkische Gebietsabtretungen vergrößert und unabhängig; Bulgarien, um Ostrumelien und Mazedonien zu einem großbulgarischen Fürstentum erweitert. Damit eröffnete sich für Russland der freie Zugang zum Mittelmeer. Die Folge: Großbritannien und Österreich-Ungarn protestierten scharf gegen die erneute territoriale Machtausweitung Russlands. Als britische Flottenverbände bis ins Marmarameer einliefen und ein kriegerischer Zusammenstoß mit Russland unmittelbar bevorstand, schlug der österreichisch-ungarische Außenminister Gyula Andrássy einen Friedenskongress zur Regelung aller strittigen Fragen vor. Nach Bismarcks Eingreifen einigten sich die Großmächte auf Berlin als Tagungsort, weil das Deutsche Reich keine unmittelbaren geopolitischen Interessen auf dem Balkan verfolgte.
Am 13. Juni 1878 eröffnete Bismarck den Berliner Kongress. Jeweils zwei führende Politiker der europäischen Großmächte und aus der Türkei waren nach Berlin gereist, darunter Andrássy, Benjamin Disraeli für Großbritannien, Alexander Gortschakow und Peter Schuwalow für Russland, William Henry Waddington für Frankreich, Alexander Carathéodory und Mehmed Ali für die Türkei. Italien war mit zwei Bevollmächtigten vertreten. Zur deutschen Delegation zählten neben Bismarck der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Bernhard Ernst von Bülow und Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Alles gewichtige politische Persönlichkeiten und gewitzte Diplomaten.
Ergebnis der langen und geduldigen Verhandlungen war der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Berliner Vertrag, der den Frieden von San Stefano zuungunsten Russlands revidierte. „Groß-Bulgarien“ wurde aufgeteilt in das zwar autonome, formal aber unter osmanischer Herrschaft stehende Fürstentum Bulgarien, die Provinz Rumelien und das osmanische Mazedonien. Die Unabhängigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro wurde anerkannt. Österreich-Ungarn erhielt gegen den Protest der Türkei das Recht, Bosnien und die Herzegowina zu besetzen, um den russischen Machtzuwachs auf dem Balkan auszugleichen. Russland galt als großer Verlierer.
Der deutsche Reichskanzler erwarb sich nicht nur in London nachhaltig den Ruf eines vertrauenswürdigen Außenpolitikers und klugen Diplomaten. Aber ganz anders urteilten der russische Außenminister Gortschakow und die russische Öffentlichkeit.
Nach dem Kongress begann die slawophile Presse in Russland eine lautstarke Kampagne, mit der sie Bismarck beschuldigte, den russischen Außenminister hereingelegt zu haben. Preußen habe Verrat geübt und sollte sich gefälligst daran erinnern, dass Russlands Neutralität 1870/71 den deutschen Sieg gegen Frankreich ermöglicht hatte. Gortschakow wurde von den gleichen Zeitungen als kleinmütiger Hasenfuß verspottet, weil er sich Bismarck unterworfen hätte.
Tatsächlich leitete der Berliner Kongress eine Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen ein. Schuld daran trug jedoch nicht nur die slawophile Presse in Russland. Bismarck warf Russland Undankbarkeit vor und verärgerte damit Kaiser Alexander II., weil dieser, wie auch Gortschakow, Bismarcks Leistung als „ehrlicher Makler“ auf dem Berliner Kongress nur mit sarkastischer Süffisanz würdigte.
Doch der ganze Casus besaß noch eine andere Dimension. Die zweite Ursache für die sich beiderseits verschlechternden Beziehungen lag in der weltweiten Agrarkrise. Deutschland nahm bislang etwa 30 Prozent des russischen Getreideexports auf. Die preußischen Junker und Großagrarier forderten die Absperrung des deutschen Binnenmarkts gegen russische Agrarimporte. Bismarck erließ im Januar 1879 Quarantänemaßnahmen gegen den russischen Viehimport, die quasi ein Ende der Fleischeinfuhr nach sich zogen. Als Anlass diente Bismarck die Pest, die 1879 im Gouvernement Astrachan wütete. Der Export von Agrarprodukten bildete den Lebensnerv der russischen Großgrundbesitzer. Denen fiel es nicht schwer, die slawophile Presse zu bewegen, eine Verbindung zwischen Bismarcks angeblich antirussischer Haltung auf dem Berliner Kongress und dem Stop der Agrarimporte herzustellen. Offener Hass schlug den deutschen Diplomaten oder Unternehmern aus dem nationalistischen Teil der russischen Presse entgegen.
Sowohl Bismarck als auch Gortschakow verloren die Nerven. In ihren publizistischen Sprachrohren eröffneten sie bösartige Kampagnen gegeneinander. In der deutschen und russischen Presse begann ein peinlicher „Zeitungskrieg“ der beiden Reichskanzler gegeneinander, der in Europa kein Beispiel besaß. 1850 hatten sich Bismarck und Gortschakow als Gesandte auf dem Deutschen Bundestag in Frankfurt kennen und schätzen gelernt. Sie wurden für viele Jahre persönliche Freunde. Jetzt höhnte Bismarck, dass Gortschakow sich durch einen vollständigen Mangel an politischen Fähigkeiten auszeichnete. Bismarck ergänzte daneben die Quarantänemaßnahmen durch sanktionierende Getreidezölle, die den russischen Getreideexport nahezu zum Erliegen brachten.
Zar Alexander II. suchte dem schändlichen Treiben ein Ende zu bereiten und schrieb am 15. August 1879 an seinen Onkel Wilhelm I. den „Ohrfeigenbrief“. Der Kaiser warf Bismarck vor, die guten Beziehungen zu Russland seinem Privatzwist mit Gortschakow zu opfern. Bismarck wolle eine internationale Krise zum Schaden Russlands heraufbeschwören. Er sollte sich besser an Russlands Hilfe von 1870/71 erinnern und größere Dankbarkeit zeigen. Ohne Russlands Hilfe hätte es 1871 kein einheitliches Deutsches Reich gegeben! Wenn Bismarck in dieser Politik fortführe, könnten daraus für beide Länder verhängnisvolle Konsequenzen erwachsen. (Wortlaut des „Ohrfeigenbriefs“ in französischer Sprache in: Die große Politik der europäischen Kabinette, Band 3, Seite 16).
Wilhelm I. lavierte, wollte weder die Bindung an Österreich-Ungarn noch an Russland verlieren. Er schlug ein Treffen im September 1879 vor. Die Begegnung fand am 3./4. September statt: Alexander erklärte auf Bitten Wilhelms den Brief für nicht geschrieben, entschuldigte sich beim deutschen Kaiser für den groben Ton und knebelte die slawophile Presse. Na bitte, die Götter einigten sich friedlich, ohne dass der Berliner Vertrag abgeändert wurde.
Es folgte jedoch durchaus kein Sonnenschein zwischen den Kontrahenten: Gortschakow war alt und wollte Frieden schaffen. Schon auf dem Berliner Kongress hatte er gesagt: „Ich möchte nicht wie eine qualmende Lampe ausgelöscht werden. Ich möchte untergehen wie ein Stern.“ Aber Bismarck stänkerte weiter. Gegen den Willen seines Kaisers forcierte er einen gegen Russland und Frankreich gerichteten Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn. Dieser Vertrag wurde Anfang Oktober1879 geschlossen. Doch das Fazit blieb deprimierend!
Der „Ohrfeigenbrief“ symbolisierte im Grunde das Scheitern der außenpolitischen Konzeption Bismarcks, durch eine taktisch begründete Annäherung an Russland die politische Balance in Europa zu wahren. Daran änderte auch ein Rückversicherungsvertrag im Jahre 1887 nichts. Doch das permanente Balancieren zwischen Krieg und Frieden war auch nur eine leicht endzündbare Strohbarrikade auf der Straße in die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts.
Schlagwörter: Detlef Jena, Deutschland, Otto von Bismarck, russisch-türkischer Krieg