Das Hessische Staatstheater in Wiesbaden hat für seine traditionellen Maifestspiele nicht nur diversen Opern-Aufführungen den roten Teppich ausgerollt. Diesmal präsentiert auch das Schauspiel ein besonderes Schmankerl. Drei Stücke an einem Tag, die die Zuschauer von 11.00 Uhr vormittags bis kurz vor Mitternacht auf eine Reise an „Die Küste Utopias“ mitnehmen. Unter diesem geographisch metaphorischen Gesamttitel sind Tom Stoppards Stücke „Aufbruch“, „Schiffbruch“ und „Bergung“ zusammengefasst. Der erste Teil hatte im September 2020 Premiere, „Schiffbruch“ und „Bergung“ folgten am 26. und 27. Juni 2021. Die Trilogie an einem Tag auf ihre Wirkung zu testen, blieb dem aktuellen Festspieljahrgang vorbehalten und lässt sich eh nur an einem Sonntag machen. Alle drei Stücke haben die Chefdramaturgin des Neuen Theaters in Halle, Henriette Hörnigk (Regie), Gilbert Jäkel (Bühne) und Claudia Charlotte Burchard (Kostüme) in Szene gesetzt. Das Team machte daraus nicht einfach nur eine Miniserie, sondern etablierte eine Grundstimmung, zu deren Reiz es gehört, dass die szenische Gangart nie eintönig wird. Ob in Russland oder Westeuropa, ob im Landhaus oder in einer Redaktion. Ästhetisch ist das alles eine Maßanfertigung. Samt gut dosierter Video und Musikeinlagen.
Die Reise, die im Jahr 1833 beginnt und 1868 endet, wird unversehens zu einem historischen Schlaglicht auf die Gegenwart von heute. Kein Wunder, wenn ausgerechnet am 8. Mai 2022 ein paar aufregende Kapitel der russischen Geschichte jener Zeit auf der Bühne verhandelt werden. Im nunmehr bereits vierten Kriegsmonat blitzen da etliche Sentenzen so grell, als wären sie nachträglich eingefügt worden. Dem 1937 in der Tschechoslowakei geborenen britischen Starautor Tom Stoppard ist nicht nur Shakespeare so vertraut, um ein Drehbuch wie für „Shakespeare in Love“ zu schreiben. Er vermag genauso versiert mit der Brille eines geistigen Tschechow-Nachfahren auf Russland zu blicken. Nicht nur, weil hier immer alle dauernd nach Moskau wollen – oder später sollen, ja müssen, wenn sie nicht gleich ausgebürgert oder nach Sibirien verbannt werden wollen. Und dann im Exil in Paris, der Schweiz oder London stranden. Stoppard erfindet reale historische als Bühnenfiguren nach. Die berühmten, die es ins kollektive Gedächtnis geschafft haben. Und die weniger berühmten, die mit ihnen unter einem Dach lebten. Es ist wie immer, je mehr man vorher schon weiß, desto mehr erkennt man wieder, um so leichter lernt man hinzu, wenn man dem Ensemble beim Leben, Denken, Verzweifeln oder Scheitern zusieht.
Die Küste ihres Utopias war fern. Und das Wetterleuchten der großen Revolution, die ein paar Jahrzehnte nach dem Tod des berühmtesten Anarchisten Michail Bakunin (1814–1876), von Alexander Herzen (1812–1870) oder Iwan Turgenjew (1818–1883) und all den anderen, die Stoppard aufmarschieren lässt, dann tatsächlich 1917 ausbrach, erwies ja letztlich auch nur als der Feuerschein einer der Großkatastrophen der Geschichte. In deren Zeit hat sich Stoppard hineinversetzt. Mit dem Wissen von heute, wie auch sonst. Auf der Suche nach den verlorenen Illusionen über die Hoffnungen auf Wahrheit, Freiheit, Menschlichkeit.
Geschrieben hat er seine Trilogie vor über zwanzig Jahren, die deutsche Fassung von Wolf Christian Schröder hat es vor zwei Jahren endlich erstmals in Wiesbaden auf eine deutsche Bühne geschafft. Gerade noch rechtzeitig, bevor einige Übereifrige hierzulande alles Russische im Furor einer eskalierenden Parteinahme gegen den amtierenden Zaren-Nachfolger am liebsten unter Quarantäne stellen würden. Was im vorliegenden Fall schon deshalb ein Fehler wäre, weil die Trilogie nicht nur – wie in den besten Stücken von Tschechow oder Gorki – Lebensstudien bietet, die Empathie aufbauen. Sie eröffnet auch Einblicke in russisches Denken über und gegen eine gewachsene und von Objekt und Nutznießer gleichermaßen verinnerlichte Despotie.
Der „Aufbruch“ beginnt mit einer Familientafel auf dem Landgut der Familie Bakunin. Man lebt, wartet oder rebelliert wie man es halt so macht, wenn ein paar Hundert Leibeigene für den Rest sorgen. Reichtum misst sich hier nicht an der Fläche des Grundbesitzes, sondern an der Anzahl der Seelen (so die euphemistische Bezeichnung für die Leibeigenen), die man sein eigen nennt. Ausreichend kichernde, sehnsüchtig auf das Leben (sprich einen Mann) wartende Schwestern, ein Patriarch, Besuch, der Abwechslung und Irritation bringt. Es ist die Familie, in der der berühmte Anarchist Michail großgeworden ist, der den Namen im wahrsten Wortsinn ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
Paul Simon lernen wir als Philosophie verschlingenden, in seine Schwester verschossenen, noch harmlos nur seinen Vater in Rage bringenden, jungendlichen Heißsporn Michail kennen. Wir begegnen ihm auch danach immer wieder, als den Mann der nicht allzu überlegten Tat. Wenn man gut zuhört, gibts einen Grundkurs zu Schelling, Fichte, Kant und Hegel obendrauf. Sie saugen alles auf; haben aber immer nur das Gefühl, nur nachzuholen. Ex oxidente lux ist ein Grundgefühl, bei dem man irgendwann zur Flasche greift, trübsinnig wird oder sich mit der Illusion von Freiheit in der Liebe begnügt.
Alexander Puschkin ist da ein Lichtblick und stirbt prompt 1837 im Duell. Auch eine Art von Hegelscher Dialektik, Russland auf den Punkt zu bringen. Im Stück gehört dazu auch der Widergänger des Literaturkritikers Wissarion Belinskij (1811–1848). Christoph Kohlbacher macht dessen Porträt eines so verklemmten wie ambitionierten, dann auch plötzlich explodierenden Mannes zu einem schauspielerischen Kabinettstück.
Realen Schiffbruch mit ihren Ideen und Biographien erleiden diese Russen, wenn sie ihr Land physisch verlassen, es aber auch in Paris oder London immer dabei haben. Im zweiten Teil wird Alexander Herzen zur zentralen Figur. Matze Vogel macht ihn zu einem überlegten Strategen, der in all den politischen und privaten Katastrophen nicht nur der bleibt, an den sich alle immer wieder wenden, wenn sie Geld brauchen. Er macht ihn auch zu einem Sympathieträger in den persönlichen Katastrophen. Sogar, wenn ihm einmal der Kragen platzt und er seiner Frau eine scheuert, als sie ihm ihr Verhältnis zu dem von Lukas Schrenk als halbseidenen Sonnyboy gezeichneten Georg Herwegh (1817–1875) gesteht.
Stoppard bricht den Widerspruch zwischen revolutionärem Elan und den Verhältnissen, die ihn ausbremsen immer mehr auch aufs Private herunter. Auf ein Geflecht von Beziehungen, in deren Aufkeimen und Zerbrechen auch die Nebenrollen der Frauen im Leben „ihrer“ Männer in den Blick geraten. Die Entschiedenheit, mit der Lina Habicht die deutsche Schriftstellerin Malwida von Meysenburg (1816–1903) ihre Rolle als Erzieherin der Töchter von Herzen ausfüllen lässt, ist da eine, auch von den anderen Frauen unterlaufene, Ausnahme.
„Die Küste Utopias“ ist ein grandioses Stück Theater! Henriette Hörnigk und ihr großartiges Ensemble nutzen das Komödiantische in all der Tragik des Scheiterns als Treibstoff und mit sicherem Instinkt für ein treffsicheres Timing. Und für ein Theater, das seinen Möglichkeiten vertraut.
Das Schwarze Quadrat a la Kasimir Malewitsch auf dem Zwischenvorhang erinnert an den künstlerischen Aufbruch, der auch in Russland immer wieder einmal in der Zukunft der damaligen Gegenwart aufflackerte. Wenn aber wie jetzt die Mündungssalven der Kanonen in der Dunkelheit aufblitzen, ist da nicht eine Fahrt an die Küste Utopias nötiger denn je? Selbst dann, wenn wieder der große Schiffbruch droht?
Schlagwörter: Henriette Hörnigk, Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Joachim Lange, Russland, Tom Stoppard