Diesmal: „Draußen vor der Tür“ – Berliner Ensemble / „Werther“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / Kleiner Zahlensalat.
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BE: Das Herz hat sich heiser geschrien
Ein Bild des Schönen wie noch nie: Der Himmel voller Sterne – der ganze Bühnenraum ein funkelndes Sternenmeer. Und auf der Erde, auf den Brettern einsam wankend ein Mensch. Ein Gestrandeter, gezeichnet von schwerer Lebenslast. Im dreckigen Pullover; irgendein Fundstück, schlotternd am ausgezehrten Körper. Und da, erst zögerlich, dann in aufbäumender Verzweiflung presst und brüllt wie mit letzter Kraft das arme Menschenkind ein Lied aus sich heraus. Es ruft nach einem schönen Leben, nach Glück: „Feeling Good“ (von der Popsängerin Nina Simone). Doch es gibt nichts Schönes, nur Schlimmes. Gibt kein Glück für den Kriegsheimkehrer Beckmann. Der Krieg hat ihn kaputtgeschlagen. Allmählich verblassen die Sterne, verwandeln sich in tausend bunt blinkende Lichtpunkte. Wie Konfetti umschwirren sie verführerisch den gequälten Sänger als vielversprechendes Sinnbild des Lebens. „Alles lebt, lebe mit“, ruft mit letzter Kraft eine innere Stimme Beckmanns. Doch Beckmann kann nicht. Die Tür ins schönere, ins bessere Leben bleibt ihm verschlossen. Beckmann kann nur noch schreien. Mit einem einzigen, markerschütternd stummen Aufschrei.
Das sind die ersten zehn Minuten von Michael Thalheimers Inszenierung „Draußen vor der Tür“, Wolfgang Borcherts wortgewaltiges Drama eines Kriegers mit todwundem Herzen und zarter Seele, den das Schlachten zum Täter und zum Opfer machte. Ein Empfindsamer, der am Zuviel des erlittenen Unheils, von dem jetzt niemand was wissen will, zerschellte. Und der im Selbstmord endet. „Das Herz hat sich heiser geschrien, keiner hat es gehört.“
In diesem wuchtigen Einstieg zum Antikriegs-Stück von 1946, das zum pazifistischen Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur wurde, in Thalheimers szenischer Ouvertüre offenbart sich auf Anhieb und zum wiederholten Male die einzigartige Kunst dieses Regisseurs: Die Konzentration auf den archaischen, den universellen Kern einer Tragödie; auf das expressive Ausstellen von existenzialistischem Pathos, auf das beständig wiederkehrende Menschheitsleid.
Ein unvergesslicher Anfang. Auch durch das sinnige Bühnenbild von Olaf Altmann, den kontrapunktischen Soundtrack von Bert Wrede und – und dies vor allem! – durch eine Protagonistin wie Kathrin Wehlisch mit ihrem suggestiven Ausdrucksvermögen. Im Ablauf des Dramas wird sie ein ganzes Kompendium von Äußerungen des Schmerzes, der Sehnsucht, Verlorenheit und Ausweglosigkeit, aber auch der ohnmächtigen Wut und des selbstzerstörerischen Selbstmitleids aufblättern. Ein Kraftakt an Sprechkunst ohnegleichen!
Freilich, schon im emblematischen Vorspiel ist die Essenz des Stücks erzählt. Was in den neunzig folgenden Minuten von Borcherts Stationendrama draußen vor den für Beckmann verschlossenen Türen des Lebens sich ausbreitet, wird da, nun ja, beinahe nebensächlich. Wäre da nicht die unerschütterliche poetische Stärke des Autors. So sind wir, trotz des allzu oft sich wiederholenden Tremolos heulender Klage und gellender Anklage, gebannt von einer fiebrigen Albtraumhaftigkeit. – Etwa bei Beckmanns Begegnungen mit dem hilflosen Gott (Peter Luppa), dem von Leichen gemästeten Tod (Jonathan Kempf), dem horrorhaften Einbeinigen (Oliver Kraushaar) oder brutal großkotzigen Oberst (Veit Schubert), der mitleidvollen Elbe (Josefin Platt) oder hartherzigen Spießerfrau Kramer (Bettina Hoppe), dem zynischen Kabarettdirektor (Tilo Nest) und des vergeblich trostsuchenden Mädchens (Philine Schmölzer). Sie alle streuen bloß neues Salz in Beckmanns unheilbar seelische Wunden.
Das groteske Ganze gleicht einem Panoptikum der Entsetzlichkeiten. In ihm irrt Beckmann umher in heilloser Verbitterung angesichts des weltstürzenden Grauens und darüber hinaus: angesichts des allgemeinen Ignorierens von Mitschuld, des Verdrängens von Mitverantwortung. „Wer kann da noch eine Minute leben ohne zu schreien.“ Da will Beckmanns Herz „nur noch pennen tief in der Elbe“. So wird das Wasser sein Grab. Und wir bleiben draußen. Und sind schon wieder – und waren es eigentlich immer – im Krieg; weit draußen oder, wie jetzt, direkt vor der Tür. – Ein beklemmender; alles in allem ein großer Abend.
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DT-Kammer: Herzschmerz, Weltschmerz, Weltuntergang – Peng!
Wenn Triebe toben, ist der Verstand im Eimer – lästert der Volksmund über heftig lodernde Gefühle der Liebe. Anno 1774 schrieb Goethe, just 25 Jahre alt, über diese uralte Geschichte ein Romanchen im Westentaschenformat, das ihn auf Anhieb zum Star machte. „Die Leiden des jungen Werther“, eigentlich bloß ein fiktiver Briefwechsel des jungen Leidenden mit seinem Intimus Wilhelm über seine unglückliche Liebe zu einer verheirateten Lotte. Und prompt knallt sich der jugendlich stürmende und drängende Heißsporn – immer in provokant gelber Weste (sie sollte seinerzeit Kult werden) – vor Wut gegen sich und alle Verhältnisse Klock 12 Uhr überm rechten Auge eine Kugel in den Kopf. „Und Gehirn spritzte an die Wand.“
Soweit Goethe in seinem bekannt tollkühnen Bestseller. Was mir bislang unbekannt blieb ist, dass Werther nach dem Schuss noch zwölf Stunden in einem „Dämmerzustand“ fortexistierte. Der polnische Dramaturg und Autor Jaroslaw Murawski teilt es im Programmheft mit und stellt sofort die Frage: „Was ist während dieser Zeit in seinem Kopf passiert?“
Davon ist nun in Murawskis „Nach- und Neuerzählung“ zwei Stunden lang die Rede. Freilich ohne, dass dabei Interessantes oder gar Neues zutage getreten wäre. Werther (Marcel Kohler) als eitle Rampensau leckt hingebungsvoll seine Seelenwunden (zuweilen in englischer Sprache). Sein Freund Wilhelm (Thorsten Hierse) gibt den Trauerkloß des ewig zu kurz Gekommenen und ist nebenbei ein bisschen verliebt in Werther, den er hingebungsvoll abknutscht.
Lottes Ehemann Albert, der Gehörnte (Paul Grill), macht mit viel spießigem Cool-Getue („ich bin wohl ganz gut im Bett“) auf Eifersucht. Und Lotte selbst (Regine Zimmermann) rollt angesichts dieser leidenschaftslosen, endlos quasselnden, kleinmütig selbstverliebten Männertruppe bloß genervt mit den Augen. Immerhin hat sie das emanzipatorisch angehauchte Schlusswort: Die Kerle verwandelten „immer alles in Scheiße“, weil sie Liebe mit Eigentum verwechselten. Peng!
Und weil man den trefflich pointierten Goethe-Text für altmodisch befand, erfand man – für die Stille nach dem Schuss – das monologisch-egomanisch verblasene Endlosgelaber eines sich und uns langweilenden Deppen-Trios; modisches Motto: Männer sind Scheiße. Und weil derart Monothematisches wenig theatertauglich ist, bemüht sich die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak als Verkunstungs-Künstlerin, indem sie den „szenischen Text“ ihres Landsmanns durch unverständlich performativen Aktionismus mit vermeintlich vielsagenden Metaebenen aufmotzt. Da steht der Narzissmus der Regie dem der Figuren nicht nach. Kitschiger Gipfel der Albernheiten: Akrobatische Dreier-Tänze nach Choreografien von Dominika Knapik mit Musik von Janek Duszynski. Und unentwegt schweben überm schwarzen Bühnenloch riesige Kuheuter-artige Säcke auf und nieder. Vielleicht die schweren Schlechtwetterwolken der Melancholie. Oder eben bloß Luftsäcke für eine aufwändige Luftnummer.
Warnung für Pädagogen und Eltern: Das ist kein Beitrag, der bildungshungrigen oder bloß unterhaltungssüchtigen Jugend einen Klassiker näherzubringen.
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Zahlensalat: Schauspiel im Rückstand
Die Berliner Bühnen verzeichneten auch im zweiten Pandemie-Jahr einen deutlichen Rückgang bei den verkauften Eintrittskarten. Die institutionell geförderten Theater, Orchester und Tanzensembles zählten 2021 nur rund eine Million (zahlende) Besucher. 2019 seien es 3,3 Millionen gewesen, verkündete kürzlich die Senatskulturverwaltung. Die drei meistbesuchten Häuser wären der Friedrichstadt-Palast, die Philharmonie und die Staatsoper Unter den Linden gewesen.
Leider, der Abwärtstrend ist nicht gestoppt, Besucherschwund bleibt allgegenwärtig. Freilich, die Pandemie. Und die Kunst? Liegt’s womöglich auch an den Spielplänen und nur allzu schwer verständlichen Spielweisen?
Schlagwörter: Berliner Ensemble, Jaroslaw Murawski, Kammerspiele des Deutschen Theaters, Reinhard Wengierek, Theaterberlin, Wolfgang Borchert