25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Kurze Bahr-Nachlese

von Herbert Bertsch

Was man sagt, muss stimmen; aber man muss nicht alles sagen.

Egon Bahr

Nun sind es fast auf den Tag elf Jahre her, dass der umtriebige Slavoj Žižek bei seiner „Hegel Lecture“ im Max-Kade-Auditorium der Freien Universität zu Berlin mit diesen Sätzen einen Moment besonderer Stille provozierte: „Hegel sah das große Ganze stets in Verbindung mit dessen Antagonismen: Die komplette Vergangenheit ändert sich, wenn etwas Neues geschieht.“ Und weiter, sinnierend: „Möglicherweise haben wir im 20. Jahrhundert zu übereilt versucht, die Welt zu verändern“.

Egon Bahr wäre am 18. März 100 Jahre alt geworden. Mit 93 Jahren war er am 19. August 2015 in Berlin gestorben. Sieben Jahre ist das her. „Bahr bleibt Bahr“ – mit sich identisch; da wird sich wohl nichts ändern. Aber: Die Wahrnehmung von ihm, seiner Betätigung und Leistung ist seither heftiger Veränderung unterworfen – unmittelbar als Nebenfolge des Krieges in der Ukraine, mit mittelbarer Auswirkung bei Tankstellen und Lebensmittelregalen. Der Zusammenhang mit der Lebensleistung von Bahr ist für alle, die so etwas bekümmert, evident. Sehr viele mehr sind und werden weiter betroffen, was manche von Amts wegen zu Aktionen veranlasst, das Risiko der Übereile dabei eingeschlossen.

Ein Bahr in Hochform zeichnete sich dadurch aus, zur richtigen Zeit das Angemessene gemacht zu haben; auch, um bei späterer Auswertung wenig Reparaturbedarf vorzufinden oder zu hinterlassen. Und alles häufig von Selbstironie gekrönt. So belobigte er in einem Interview kurz vor seinem Tode Helmut Kohl dafür, dass dieser „seine“ Ostpolitik nach 1982 fortgeführt hat, mit dieser Begründung: Helmut Kohl ist ein Beispiel dafür, dass ältere Herren recht haben können, „genauso wie Kissinger, genauso wie Gorbatschow. Und wenn ich mich einbeziehen darf …“

Als Bahr gestorben war, verspürte der damalige SPD-Chef Gabriel großen Verlust: „Die gesamte deutsche Sozialdemokratie und viele Menschen darüber hinaus in Deutschland und Europa trauern um diesen mutigen, aufrichtigen und großen Sozialdemokraten, den Architekten der deutschen Einheit, Friedenspolitiker und Europäer.“ Ähnliches empfand Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei Erhalt der Nachricht: „ Nur wenigen Politikern ist es vergönnt, mit einer Idee die Welt zu verändern und erleben zu dürfen, wie die eigene Vision noch zu Lebzeiten Wirklichkeit wird.“ Bis zum Ende seines Lebens sei Bahr davon überzeugt gewesen, „dass es dauerhaften Frieden in Europa nur mit, nicht ohne Russland geben kann“. Dieses Verdienst hob Steinmeier besonders hervor als Verpflichtung für sich, daran festzuhalten.

Bundespräsident Joachim Gauck kondolierte der Ehefrau: „Als einer der Architekten der Neuen Ostpolitik hat Ihr Mann lange Zeit das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR, der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Warschauer Paktes gestaltet und geprägt. Die Aussöhnung mit unseren Nachbarn im Osten und die Sorge um den Frieden waren die Triebfedern seines politischen Handelns.“ Sein Lebensweg habe gezeigt, „daß uns Deutschen Geschichte gelingen kann.“

Dazu passt denn auch irgendwie, dass die Führung der Linkspartei und der Vorsitzende des Ältestenrates, Hans Modrow, in einem gemeinsamen Nachruf Bahr als einen der Ihren kennzeichneten: „Er war eine Jahrhundertfigur der deutschen und europäischen Linken. Der demokratische Sozialismus und eine stabile europäische Friedensordnung, darin ein Deutschland, vor dem die Völker nicht erbleichen: Wir müssen diesen Weg künftig ohne ihn gehen und werden seiner dabei ehrend gedenken“. Bei dieser Grundstimmung nimmt es schon fast nicht mehr Wunder, dass Die Welt ihren USA-Korrespondenten titeln ließ: „Egon Bahr – Tod einer deutschen Jahrhundertfigur“.

Das sind Zeugnisse von 2015. Anlässlich des 100. Geburtstages von Bahr in diesen Tagen ist dessen Wahrnehmung und Bewertung, falls überhaupt noch Gegenstand der Öffentlichkeit, von Relativierungen bis hin zur Verurteilung als Architekt einer grundlegend „falschen“ Ostpolitik geprägt. „Sein Konzept wird gerade wie Strahlenmüll entsorgt. […] Als er 2015 starb, regierte die CDU-Kanzlerin Angela Merkel nach den Grundsätzen der Neuen Ostpolitik wie zuvor auch Helmut Kohl. Das galt der großen Mehrheit als weise und vernünftig. Seit dem 24. Februar leiden die Anhänger von Bahrs Ideen wie die Hunde: Sozialdemokraten, Sozialisten, Christdemokraten, Liberale bekennen: ‚Wir waren zu naiv, zu gutgläubig.‘ Mit seinem Überfall auf die Ukraine macht der russische Präsident Wladimir Putin Überzeugungen zunichte, mit denen Deutsche und Europäer 60 Jahre lang gut und weithin friedlich gelebt hatten.“ So die Berliner Zeitung vom 18. März. Das ist kein günstiges Umfeld für die SPD und ihrem Umgang mit der in Brandt und Bahr personifizierten „Neuen Ostpolitik“.

Nie war sie leicht zu handhaben, ständig als Instrument des Machtkampfes der politischen Parteien und Stimmungen genutzt, wurde und war sie dennoch ein (nicht das einzige) Basiselement deutscher Außenpolitik aller Kanzler seit Brandt, jeweils unter Beobachtung und Einwirkung der Opposition.

So konnte nicht ausbleiben, dass weniger die SPD insgesamt, aber Seilschaften und einzelne Persönlichkeiten nach dem Verlust der Kanzlerschaft an Helmut Kohl nicht davon lassen wollten und eine Art von Neben-Außenpolitik entwickelten und praktizierten, in Sonderheit gegenüber der DDR. Die bisherigen Lebensumstände und Beziehungen waren dabei bedeutsam. Brandt hatte seinen Breschnew, Kohl hatte seinen Gorbatschow. Vor allem kam und kommt es darauf an, „in“ zu bleiben, sich zu profilieren, was Zugang zu internen Informationen und Möglichkeiten zu mittelbarer Politikgestaltung, etwa die Nutzung der Medien, voraussetzt.

Egon Bahr fand nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst zwischen 1976 bis 1981 zunächst Verwendung als Bundesgeschäftsführer der SPD. Dann begann eine zweite Karriere. 1984 wurde er Direktor des eigenständigen Forschungs- und Politikberatung-Instituts „für Friedens- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg“. Daraus wurden zehn Jahre, voll mit eigenen Publikationen, aber auch erfolgreich durch seine führende Mitwirkung an der Etablierung eines übergreifenden Netzwerkes vergleichbarer Institutionen in Ost und West.

Bedingt durch die besonderen Beziehungen zwischen BRD und DDR und auch aus Bedarf an wissenschaftlicher Beihilfe hatte sich die auch vertraglich gesicherte Zusammenarbeit mit dem IPW der DDR entwickelt. Es ging weniger um die Förderung der staatlichen Beziehungen, wofür es viel zu viele andere wissenschaftliche Kontakte gab, als vielmehr um Europäische- und Weltsicherheit durch Abrüstung, Rüstungsbegrenzung und strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit. Immer dem Hauptziel verpflichtet: Auflösung der Militärblöcke und Ersatz durch ein europäisches Sicherheitssystem, selbstverständlich mit Russland und angesichts der gegebenen Bedingungen durch die NATO-Konstruktion auch mit den USA.

Zunehmend trieb Bahr dabei diese Erkenntnis um, wohlgemerkt im Jahre 2008, mit dringlicher Empfehlung zum „Umsteuern“: „Die Vision einer neuen Ostpolitik ist nötig: Wie ist statt fortgesetzter NATO-Osterweiterung eine gesamteuropäische Friedensordnung mit Amerika und Rußland zu schaffen, in der Kriege unmöglich werden? […] Auch Amerika wird nicht glauben, daß Rußland immer so schwach bleibt, wie es ist. Sein Wiedererstarken zu verhindern, soweit daraus eine Bedrohung Amerikas entstehen könnte, läge nahe. Deutschland muß nicht automatisch so denken. Gerade weil wir das militärische Gewicht – anders als Amerika, das sich darin sonnt – verringern wollen, liegt uns an einer Gesundung Rußlands, damit es sich seiner selbst sicher auf kooperative Einbeziehung in Europa einlassen kann und nicht auf Konfrontation ausweichen muß.“

Um des 100. Geburtstages von Egon Bahr im politischen Berlin zu gedenken, waren die Veranstalter auf die Idee verfallen, den staatlichen Mitgestalter der neuen Ostpolitik auf den Parteifunktionär mit eigener Meinung einzuschrumpfen („weiter entwickeln“). Der sozialdemokratische Bundeskanzler war damit verpflichtungsfrei gestellt, genauer zu erklären, warum es eine „Zeitenwende“ gibt, für die der weitere Bezug auf die „neue Ostpolitik“ weder notwendig noch nützlich wäre. Dies seine Begründung: „Dialog – gerade mit Russland – setzt eigene Stärke voraus. Das wussten auch Willy Brandt und Egon Bahr. Übrigens: Der prozentual höchste Anstieg der Verteidigungsausgaben in der Bundesrepublik fiel in ihre Regierungszeit.“ Und das würde er als Erbe dankbar annehmen. Nicht gerade viel.

Dass Dialogfähigkeit „Stärke voraussetzt“, von Bundeskanzler Scholz eindeutig militärisch definiert, dürfte die internationale Verhandlungspraxis erheblich einengen. Gerade für Deutschland in gegenwärtiger Wehrverfassung dürfte jeder Test ungünstig ausgehen. Und den ausgemachten Gegner um Aufschub bitten, bis wir es bei der Kampfkraft in die erste Liga geschafft haben werden? Nur gut, dass Brandt und Bahr seinerzeit davon Abstand nahmen und auf die Kraft von Argumenten, auf gegenseitige Interessen bei gleicher Sicherheit bauten.

Beifällige Anerkennung hat ganz schnelle Verfallszeiten; langfristige Verpflichtungen haben die Eigenart, dauerhaft zu wirken – Nebenwirkungen inklusive …