25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Indiens Außenpolitik im Zwielicht

von Edgar Benkwitz

Die Haltung der indischen Regierung, die russische Aggression gegen die Ukraine nicht zu verurteilen, hat in der Weltöffentlichkeit Verwunderung und bei nicht wenigen Missfallen hervorgerufen. Indien ist gegenwärtig nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat und trägt somit eine besondere Verantwortung für den Weltfrieden. Doch hier, in der UN-Vollversammlung und in Spezialorganisationen übte es zu den vorgelegten Resolutionen, die das russische Vorgehen gegen die Ukraine missbilligten, Stimmenthaltung aus. Das wird weitgehend als eine Tolerierung der russischen Aggression gewertet. Indien muss sich so kritischen Stellungnahmen vor allem westlicher Länder stellen.

Die indische Regierung vermeidet Schuldzuweisungen, obwohl Russland gegen die Ukraine eine völkerrechtswidrige Aggression mit schwersten humanitären Verbrechen begeht und damit in gröbster Form gegen die Prinzipien der UN-Charta und des Völkerrechts verstößt. In ihren Erklärungen wird lediglich die Sorge über die Lage in der Ukraine ausgedrückt, zur Achtung der territorialen Integrität aufgerufen und zur Beendigung der Feindseligkeiten und zu Dialog und Diplomatie aufgefordert.

In der indischen Öffentlichkeit wird die Haltung der Regierung weitgehend gebilligt. Dabei spielte anfangs die Sorge um über 20.000 indische Studenten, die sich bei Kriegsausbruch in der Ukraine aufhielten, eine große Rolle. Viele von ihnen studierten in Sumy und Charkiw und gerieten ins Kampfgeschehen. Premier Modi telefonierte mehrmals mit Putin und auch Selenskyi um eine sichere Evakuierung zu erreichen. Das erwies sich jedoch als äußerst schwierig, erst drei Wochen nach Beginn des Kriegsgeschehens hatten sich die letzten 1000 Studenten in osteuropäische Länder durchgeschlagen.

Der Hauptgrund für die indische Haltung ist jedoch, dass die Beziehungen mit Russland nicht gefährdet werden sollen. Das bezieht sich auf eine enge politische Zusammenarbeit, auf die Lieferung moderner Rüstungsgüter, den Bau von Atomkraftwerken sowie auch die Unterstützung für die geplante erste bemannte Weltraummission. Das alles sind Tatsachen, auf die Indien nicht verzichten kann und will. Zudem – so lauten viele Kommentare – war solch eine Zusammenarbeit mit den USA in der Vergangenheit durch deren ablehnende Haltung in diesen für Indien essentiellen Fragen nicht möglich.

Die Medien weisen darauf hin, dass das Verhältnis Indiens zu den USA in letzter Zeit verstärkt von Misstrauen geprägt wird. Das ist vor allem dem Rückzug der USA aus Afghanistan geschuldet, der das Kräfteverhältnis in Südasien zu Ungunsten Indiens verändert. Die Macht der Taliban in Afghanistan stärkt pakistanische und chinesische Positionen in Südasien und die Gefahr eines wachsenden Terrorismus in der Region wird in Indien äußerst kritisch gesehen. Hinzu kommt ein ständiger Druck der USA, sich stärker gegen China zu positionieren. Und schon lange vor der Ukraine-Krise bemühte sich Washington, einen bestimmenden Einfluss auf die Beziehungen Indiens zu Russland zu nehmen.

Nach Indiens Stimmenthaltung im Sicherheitsrat verschärfte sich dieses Bemühen. Präsident Biden erklärte: „Es gibt keinen Platz für Entschuldigungen und Ausflüchte“ und das State Departement stufte Indien in einer Anweisung an seine diplomatischen Vertretungen „zum russischen Lager“ gehörend ein. Diese Wertung wurde zwar zurück gezogen, doch es hieß dann, man werde weiter „daran arbeiten, Indien zu bewegen, eine klare Haltung einzunehmen“. Eine Dringlichkeitssitzung zur Ukraine in der indopazifischen Quad-Gruppe, der neben den USA auch deren Verbündete Australien und Japan sowie Indien angehört, sollte das richten. Präsident Biden rief sie kurzfristig für den 3. März ein, doch der indische Premierminister führte nur aus, dass die Quad sich auf die Region und ihre erklärten Kernprobleme konzentrieren solle. Im Text für die Presse hieß es dann lediglich, dass die Teilnehmer „den andauernden Konflikt und die humanitäre Krise in der Ukraine erörterten und ihre Auswirkungen einschätzten“. Der ehemalige Sicherheitskoordinator der indischen Regierung, S. D. Pradhan, erläuterte dazu in der Times of India: „Es ist höchst unerwünscht, die Quad in eine Unterstützung für die von der USA geführte NATO hineinzuziehen.“ Er erinnerte an den Standpunkt seines Landes, dass die Quad kein Militärbündnis sei und sich gegen kein Land richte.

Auch alles weitere diplomatische Bemühen westlicher Staaten, Indien zu einer Veränderung seiner Positionen zu bewegen, war bisher erfolglos. Unausgesprochen liegt der indischen Haltung auch der Vorwurf zu Grunde, dass die von den USA geführte NATO an der entstandenen Lage in der Ukraine nicht schuldlos sei. Die Anschuldigung, Indien bediene sich einer doppelten Moral, indem es sich wegen einer chinesischen Aggression an seinen Grenzen beklage, aber jetzt die russische Haltung toleriere, wurde von Außenminister S.Jaishankar vehement zurückgewiesen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz bezichtigte er seinerseits die westlichen Länder moralischer Doppelstandards, die sich schon vor Jahren im Indopazifik, vor allem aber in Afghanistan, zeigten. Das Argument der Scheinheiligkeit des Westens spielt weiterhin eine Rolle beim Kauf russischen Erdöls durch Indien – der Westen solle erst selbst einmal die enormen Bezüge von Gas und Öl einstellen, ehe es andere Staaten rüge, heißt es offiziell.

Es ist abzusehen, dass sich an der indischen Haltung hinsichtlich der Ukraine-Krise im Prinzip nichts ändern wird. Doch es gibt auch vereinzelt kritische Stimmen, die von einem zu engen Zusammengehen mit Russland und damit verbundenen abträglichen Folgen für das Land warnen. Indien hänge zwar von russischen Waffenlieferungen ab, doch es sei der größte Abnehmer, auf den Russland nicht verzichten könne. Dieses Verhältnis biete Möglichkeiten, auf Russland einzuwirken, heißt es. Beim Besuch des russischen Außenministers Lawrow in Neu-Delhi am 1. April wurden aber offensichtlich solche Möglichkeiten nicht genutzt. Denn dieser lobte Indien, „dass es die Situation in ihrer Ganzheit und nicht einseitig behandelt“.

Zu den außenpolitischen Grundpositionen Indiens hatte sich ausführlich der bereits erwähnte Sicherheitsexperte S. D. Pradhan in der Times of India vom 18. März geäußert. Indien werde an der „strategischen Autonomie in seiner Außenpolitik“ festhalten, die von einem ausgewogenen Herangehen seiner Interessen bestimmt werde, heißt es hier. Betreffs Ukraine-Konflikt wäre es keine Lösung, sich mit einer Seite zu verbünden, vielmehr müsse die Situation in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Die multipolare Welt „gibt Indien Gelegenheit, geschickt zu operieren, um seine strategischen Ziele zu erreichen“, so Pradhan. Und weiter: „Indien muss seine nationalen Interessen voran treiben, indem man die Widersprüche ausnutzt, die im globalen Gefüge entstehen.“ Er bezieht sich auf Bismarck, „der gleichzeitig mit fünf Bällen spielen konnte, davon drei in der Luft und zwei in der Hand“.

Es ist nicht das erste Mal, dass Bismarck mit seiner Machtpolitik von sicherheitspolitischen Strategen Indiens zum Vorbild erklärt wird, was einen Einblick in deren Denkweise gestattet. Doch die heutige multipolare Welt ist von harten Gegensätzen gekennzeichnet, was auch Indien erfahren muss. Der Konflikt der USA mit China geht an Indien nicht spurlos vorbei. Auch derUkraine-Konflikt birgt bekanntlich durch die Konfrontation der USA mit Russland ein äußerst gefährliches Potential in sich, das letztendlich auch für Indien katastrophal enden könnte. Das wird im nationalistischen Denken, das sich auch in der Außenpolitik niederschlägt, übergangen.