25. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2022

Die Taleban und die Mädchenschulen

von Thomas Ruttig

In Afghanistan halten Proteste gegen die Entscheidung der Taleban vom 23. März an, entgegen wiederholter Ankündigungen auch im neuen Schuljahr die höheren Mädchenschulen ab Klasse 7 nicht wieder zu öffnen. Die Proteste kommen nicht nur von mutigen Schülerinnen, unterstützt von Frauenrechtlerinnen und auch ein paar Männern, die in Kabul und der westafghanischen Metropole Herat auf die Straße gingen.

Am 4. April sprengten Mädchen im zentralafghanischen Bamian sogar eine Veranstaltung, zu der die Taleban Menschen zusammengetrommelt hatten. damit – wie es auf einem Banner hieß – „das Volk Bamians“ seine „Unterstützung für die Ordnung des Islamischen Emirats“ bekunden konnte. Doch es kam anders: Einige Mädchen, deren Gesichter mit Covid-Masken bedeckt waren, betraten vor Veranstaltungsbeginn die Bühne und rissen unter Beifall und Jubelrufen anwesender junger Frauen die Banner ab. Wie Videos zeigten, die in den sozialen Medien schnell die Runde machten, verließen sie und mehrere Dutzend Zuschauerinnen danach den Saal, beobachtet von wohl drei bewaffneten Talebanwächtern, die erst einmal nicht reagierten.

Solcher Protest ist gefährlich. Drei Tage später hieß es dann in sozialen Medien, die Taleban hätten zehn der beteiligten Mädchen verhaftet.

Inzwischen protestieren sogar afghanische islamische Geistliche gegen das Schulverbot. Als erster meldete sich Scheich Faqirullah Faeq aus Kabul per ebenfalls im Internet verbreiteter Audiobotschaft und erklärte, der Islam erlaube Mädchenbildung „sowohl in modernen wie religiösen Fächern“. Er werde bis zum Talebanchef gehen, wenn seine Argument dafür nicht angehört würden. „Die Ungläubigen [Nichtmuslime – d.A.] lachen über uns. Sie nennen uns ‚Wilde’, weil wir uns nicht auf die wichtigen Dinge, sondern auf Nebensachen konzentrieren,“ sagte er.

Zu Beginn des Fastenmonats Ramadan sprachen sich auch die Teilnehmer eines größeres Treffens von Islamgelehrten in Kabul für die Schulöffnung aus. Drei Tage später folgten Kollegen in der nördlichen Großstadt Masar-e Scharif und drangen auf eine schnelle Wiedereröffnung der höheren Mädchenschulen. Einer von ihnen, Maulawi Muhammad Sardar Sirat sagte, „die ganze Nation“ sei „besorgt“ über diesen Beschluss der Taleban-Regierung.

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Die Verbotsentscheidung kam vom religiösen Chef der Taleban, dem „Oberhaupt der Gläubigen“, dem öffentlichkeitsscheuen Haibatullah Achundsada, der sich im südafghanischen Kandahar aufhält. Er hatte dort Ende März führende Taleban aus dem Führungsrat – dem höchsten Gremium der Organisation – und ihrem Kabinett in Kabul zusammengerufen, um, wie westliche Medien mehr vermuten als wussten, angeblich Streitigkeiten um die Ämterverteilung zwischen verschiedenen regionalen Taleban-Netzwerken zu schlichten. Gerade um Besetzungen in Geheimdienst und Polizei hatte es tatsächlich Streit gegeben. Offenbar nutzte Haibatullah den Anlass, auch in Sachen Mädchenschulen durchzugreifen – eine Angelegenheit, die er bis dahin offenbar dem Kabinett überlassen hatte. (Das Bildungsministerium erklärte sowohl vor als auch nach der Entscheidung, es könne die betreffenden Schulen „jederzeit“ öffnen, „wenn die Führung es anordne“.) Haibatullah sprach dann offenbar ein Machtwort im Sinne der ultrakonservativen Öffnungsgegner.

Deren Argument, wie später von Bildungsminister Nurullah Munir vorgetragen, ist: Nach Klasse 6 führte gemeinsames Lernen von Jungen und Mädchen zu fisat, einem Scharia-Konzept, das etwa „schlechtes Benehmen“ bedeutet. Es ist bekannt, dass an den Schulen wie auch den Universitäten Schülerinnen und Schüler auch freundschaftlich in Kontakt kommen. Das wollen die Taleban unterbinden. An den Universitäten setzen sie bereits eine Gendersegregation durch, mit minutiösen Anordnungen, wer wo sitzen, wie dorthin gelangen und wer wen unterrichten soll, wo getrennte Vorlesungen stattfinden müssen und wo ein Vorhang zwischen Studentinnen und Studenten ausreicht.

Die Entscheidung vom 23. März sorgte dafür, dass auch in den Provinzen, in denen Mädchenschulen jenseits von Klasse 6 weitergelaufen waren, nun ebenfalls schließen mussten. Dazu gehört auch Herat.

Dass diese Schulen bis dahin überhaupt geöffnet waren, lag an der mutigen Schülerin Sotuda Forutan. Am Geburtstag des Propheten Muhammad am 21. Oktober vorigen Jahres hatte sie eigentlich vor Taleban-Offiziellen ein Gedicht zu diesem Anlass vortragen sollen. Stattdessen bat sie in einer kurzen Rede, die Mädchenschulen offen zu halten. Sogar die Taleban, die ihr zugehört hatten, applaudierten, wie die von afghanischen Frauen betriebene Nachrichtenagentur Ruchschana berichtete. Die Schulen blieben offen.

Aus Kabul berichtete die 16-jährige Schülerin Marjam Ibrahimi* Kollegen des Autors, sie habe an jenem Tag bereits eine halbe Stunde im Geografieunterricht gesessen, als eine Lehrkraft in die Klasse kam und sagte, es sei angeordnet worden, dass sie die Mädchenschule schließen müssten. „Wie alle anderen hatte ich meine neue Schuluniform an und meine Bücher, die Schultasche und Schreibzeug dabei. Ich hatte sogar Material für meine Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitet“, sagt sie. „Mein Vater war so traurig und besorgt.“ Barjalai Hakimi, Vater von drei Töchtern im Alter von 12 bis 18 Jahren und Gemüsehändler in der Stadt Ghasni, 150 Kilometer südlich von Kabul, berichtete: „Sonst kamen meine Töchter immer zwischen 12 und 1 Uhr von der Schule nach Hause, aber an jenem Tag kamen sie schon um zehn. Ich war schockiert und in Sorge, was ihnen zugestoßen sein könnte. Dann beschrieben sie mit Tränen in den Augen, was vorgefallen war. Ich fühlte mich enttäuscht, hilflos und erniedrigt, denn trotz vieler Schwierigkeiten und Geldprobleme habe ich immer versucht, für meine Mädchen zu sorgen, damit sie studieren und die Zukunft unseres Landes werden können. Wenn sie nicht studieren können, wird das Land rückständig bleiben.“

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Warum das Schulverbot? Einige Beobachter verweisen auf die Argumentation der Taleban, die immer gesagt hatten, dass sie zwar Mädchenbildung befürworteten, aber dies nur im „Rahmen der Scharia“. Immer wieder hieß es, das bedeutet, dass es getrennten Unterricht für Mädchen und Jungen im Pubertätsalter geben müsse; dass Schülerinnen und Lehrerinnen sich auf dem Schulweg verschleiern müssten; dass nur Lehrerinnen oder moralisch integre ältere Männer Mädchen unterrichten dürften; dass auch das Lehrerkollegium nach Geschlechtern getrennte Räume nutzen müsse. Einige Taleban meinen, getrennter Unterricht bedeute getrennte Schulen, andere – wie auch die protestierenden Geistlichen in Kabul –, dass getrennter Schichtunterricht ausreiche.

Allen war klar, dass in Afghanistan für durchgehend nach Geschlechtern getrennte Schulen bei weitem nicht die materiellen Voraussetzungen existieren. Trotz Milliardeninvestitionen während der US-geführten Intervention von 2001 bis 2021, aber auch wegen massiver Unterschlagung von Geldern gerade im Bildungsbereich, verfügte bei Taleban-Machtübernahme nur etwa die Hälfte aller Schulen im Land über ein Gebäude. Der Rest der Kinder saß in Zelten oder, wenn es das Wetter erlaubte, im Freien. Getrennte Schulen für alle landesweit umzusetzen, würde Mädchenbildung für viele wohl auf Jahrzehnte unmöglich machen. Getrennte Schichten gibt es in Afghanistans Schulsystem aber schon längst.

Deshalb meinen Frauenrechtlerinnen wie Heather Barr von Human Rights Watch, den Taleban gehe es gar nicht um Bildung und die Trennung der Geschlechter dabei. Sie geht davon aus, dass die Taleban die Frauen – auch die älteren Mädchen in den höheren Schulen – einfach „aus der Öffentlichkeit drängen“ wollen. So sieht – außer in einigen wenigen Schulen, die dort existieren – auch die Wirklichkeit im südafghanischen Stammland der Taleban aus. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind selten Frauen auf den Straßen zu sehen, und wenn nur in Begleitung eines männlichen Verwandten.

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Die pragmatischeren Talebanführer haben die innerorganisatorische Kraftprobe gegen die Ultrakonservativen um die Mädchenbildung verloren. Welche Seite wirklich die Mehrheit hätte, ist unklar. Die Taleban funktionieren nicht nach dem Mehrheitsprinzip.

Auf alle Fälle schossen die Taleban mit der Schulschließung ein politisches Eigentor. Die von ihnen angestrebte diplomatische Anerkennung durch die Regierungen der westlichen Geberländer dürfte in weite Ferne gerückt sein. Das Verbot dämpfte auch die Gebefreudigkeit der westlichen Staaten weiter. Bei einer Online-Konferenz, bei der die UNO Ende März 4,4 Milliarden Dollar für humanitäre Zwecke in Afghanistan einwerben wollten, kam nach offiziellen Angaben nur die Hälfte davon zusammen. Laut Andrew Watkins vom US-Friedensinstitut in Washington sei es real sogar nur ein Viertel, was neues Geld betrifft.

Die Frage ist, ob die Taleban nun politisch nachsteuern. Es gebe gar kein Schulverbot, so Taleban-Außenminister Amir Chan Mutaqi vorige Woche bei einem regionalen Treffen mit Amtskollegen in China. Ein Plan für die Wiedereröffnung nach islamischen Kriterien sei in Vorbereitung, sagte er, und versuchte den Eindruck zu erwecken, es handle sich nur um ein technisches-organisatorisches Problem. Das Anfang April ebenso überraschend verhängte Taleban-Verbot der Produktion, des Handels und der Verwendung von Drogen aller Art, von Opium bis Alkohol, wird von vielen Analysten als Versuch gesehen, den international schlechten Eindruck, den die Schulschließung hervorrief, zu kompensieren. Hier dürften sich die Taleban verschätzt haben.

* – Namen zum Schutz der Interviewten verändert. Unter Verwendung von Material des Afghanistan Analysts Network in Kabul, das der Autor 2009 mitbegründete.