Moritz Kirsch, der Sohn der Dichterin Sarah Kirsch, hat ein bemerkenswertes Buch herausgebracht. Es besteht aus den Tagebuchtexten seiner Mutter vom 31. August 1989 bis zum 18. März 1990. Ergänzt werden diese durch ein sehr persönliches Nachwort des Herausgebers und einen klugen Essay von Frank Tende.
Ich habe mich in den Tagestexten der Kirsch festgelesen, förmlich in sie hineingefressen. Minutiös registriert die Dichterin vom Dithmarschischen aus die sich tagtäglich verdichtenden Zeichen der Agonie der DDR, mit der sie eigentlich seit dem Erlebnis ihrer an Bösartigkeit kaum zu steigernden Vertreibung im Jahre 1977 fertig war. „Lat mi tofreden“ hätte auch als Titel stehen können. Dennoch – oder deshalb? – kann sie nicht loslassen und nimmt geradezu gierig die Nachrichten aus dem sterbenden Land auf. Der Freund Eckart Krumbholz versorgt sie zuverlässig damit. Die Medien tun ein Übriges. Manchmal, wenn es gar zu dicke kommt, gerade in der „Deutschland“-“Deutschland“-Phase des sich verschärfenden DDR-Wahlkampfes im Spätwinter 1990, dreht sie den Regler des Radios auf einen dänischen Sender. Da verstehe man wenigstens nichts.
Hoffnung auf bessere Verhältnisse in dem Land, aus dem sie einst kam, hat sie nicht. Der SED und den von dieser Partei abhängigen Strukturen steht sie aus guten Gründen feindlich gegenüber. Den „Reformern“, die aus dieser Partei heraus die PDS entwickeln, traut sie von Anfang an nicht über den Weg. Zu durchsichtig scheinen ihr deren Absichten zu sein. Sie zitiert Lampedusa nicht, aber dem großen Sizilianer gleich kennt sie diese Haltung: „Es muss sich alles ändern, damit alles beim Alten bleibt.“ Und mit Kopfschütteln, das ist jetzt euphemistisch formuliert, registriert sie die Versuche der Freunde, sich jetzt „einzubringen“. Heinz Czechowski, Erich Loest zum Beispiel … Fassungslos nimmt sie den Versuch Rudolf Bahros zur Kenntnis, ausgerechnet auf dem Sonderparteitag der SED seine ökologischen Visionen den Genossen als linkes Politikmodell nahezubringen. Ich durfte das seinerzeit in der Berliner Dynamo-Sporthalle miterleben. Sarah Kirschs Erschütterung über diesen Vorgang trifft es. Die Entfremdung ihren Freunden in der DDR gegenüber, zuvörderst Christa Wolf („Ich streite mich immer mit ihr, aber ich liebe sie eben.“), war zwingend.
Apropos Ökologie. Mit großer Sensibilität registriert Sarah Kirsch die nicht mehr übersehbaren Veränderungen im Klimagefüge des Planeten – und notiert ihre Beobachtungen Tag für Tag neben Privatem und dem Geschehen um den Untergang des „realen Sozialismus“. Ich hatte völlig vergessen, dass der Winter 1990 ein verheerender Orkanwinter war. Kirschs Sturmnotizen lesen sich wie eine Folie des „Eigentlichen“, des Politischen. Man darf sich da nicht irren. Ich denke, der beginnende Aufstand der Natur gegen das verheerende Wirken des Menschen war ihr wichtiger als die immer erbärmlicher werden „News“ aus dem Osten Deutschlands. „Ach geht mir weck!“ Spätestens Ende November 1989 war ihr klar, „daß die Wiedervereinigung wohl nicht zu umgehen ist“. Zwei Monate später meint sie, dass die Banken und Handelskonzerne in den Startlöchern säßen. Am 18. März 1990 zieht sie ein vernichtendes Fazit: „Die Blödmänner in der DDR haben alle nur das Westgeld gewählt. […] Ich bin wütend.“
Sarah Kirsch hat ein sehr ehrliches Tagebuch geschrieben. Manches zu lesen schmerzt, bei manchem möchte man mit der Autorin streiten. Aber das ist sinnlos, es ist das sehr subjektive Werk einer der subjektivsten Künstlerinnen überhaupt – einer Dichterin. Aber es ist ein Buch voller Wahrheit, und ich lege es allen ans Herz, die wissen, dass man die Geschichte, gerade auch die eigene, immer wieder hinterfragen sollte. Jens Uwe Jess, dem Verleger der Edition Eichthal, gratuliere ich zu diesem wichtigen Buch!
Sarah Kirsch: Ich will nicht mehr höflich sein. Tagebuch aus der Wendezeit 31. August 1989 bis 18. März 1990, Edition Eichthal, Gammelby 2022, 264 Seiten, 28,00 Euro.
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Im Mitteldeutschen Verlag erschien jetzt ein Foto-Text-Band mit dem raumgreifenden Untertitel „DDR-Wirklichkeit und Fotografie“. Das liest sich großspurig, sollte aber niemanden abschrecken. Es handelt sich um Arbeiten des Berliner Fotografen Jürgen Nagel aus den Jahren 1967 bis 1990. Daneben steht ein fast die gleiche Seitenzahl umfassendes Konvolut von Texten des Künstlers. Eine Text-Collage über die Jahrzehnte seines Schaffens hinweg, in der er Auskunft über seinen biografischen und künstlerischen Werdegang gibt – und Einblicke in die Hintergründe, Entstehungs- und Wirkungsgeschichten seiner Arbeiten gewährt. Ich habe das mit Interesse und Spannung gelesen. Auch weil sich so mancher Wiedererkennungseffekt einstellte. Die DDR war ein kleines Ländchen. Irgendwie kannte jeder jeden oder jemanden, der wen kannte …
„Man fotografiert mit dem Kopf und benötigt dazu eine Kamera“, zitiert Nagel seine Leipziger Kollegin Evelyn Richter. Das begegnet seinem eigenen Credo, dass man „nur sieht, was man weiß“. Er schränkt das aber ein, „man sieht nur, was man sehen will, wissen will“. Ein spannender Beleg dafür ist seine Dokumentation „Berlin-Marzahn III“ (1982–1989). Hier lohnt der Vergleich mit Roger Melis. Dessen Ausstellung „Marzahn 1983. Bilder einer neuen Stadt“ machte 2017 in Berlin Furore. Melis ästhetisiert die Tristesse der Platte. Jürgen Nagel lebte in ihr. Das macht einen ganz anderen Blick. Da sind zum Beispiel auf einem umgekippten Zementsilo spielende Kinder („Ludwig-Renn-Straße 46, Mai 1982“), da ist der wunderbar eingefangene Cliquen-Konflikt („Berlin-Marzahn III, April 1985“). Das sind zutiefst wahre Fotos. Ich kann es bezeugen. Ich bin dabei gewesen. Hermann Zschoche hat aus solchen Situationen einen Film gemacht, dessen Wucht noch heute überzeugt: „Insel der Schwäne“. Natürlich wird man für solche Arbeiten von den Herrschenden nicht geliebt. Nagel hat das erfahren und berichtet davon. Aber aufschlussreicher sind für mich auf jeden Fall die Bilder. Der Mann hat einen begnadeten Blick! Er ist kein Schnappschuss-Fotograf, kann aber Augenblicke einfangen, die andere passieren lassen. Da ist nichts inszeniert. Auch die Porträts nicht. Wenn es auch nicht immer Zuneigung zu den Abgelichteten ist, wer mag schon Leute im Stechschritt … – Jürgen Nagel versucht mit der Kamera Menschen zu ergründen. Die Fotos erzählen Geschichten von diesem Land. Davon, wie es war. Davon, warum es nicht mehr ist.
Jürgen Nagel: Blick zurück. DDR-Wirklichkeit und Fotografie 1967-1997, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2022, 264 Seiten, 28,00 Euro.
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Es sind immer die Kinder, die es am härtesten trifft, wenn die Erwachsenen ihre Konflikte mit der Waffe lösen. Es sind die erlittenen Traumata, die sich tief in die Seele einbrennen, gegen die die kleinen Menschen über entschieden weniger Schutzmechanismen verfügen als die großen. Den enormen verbalen Kommentaraufwand könnten sich die Fernsehkommentatoren sparen, wenn die Kameras einfach nur die Gesichter der ukrainischen Kinder sprechen ließen.
Am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien arbeitet der Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“. „Damit es nicht verlorengeht …“ heißt seine verdienstvolle Reihe autobiographischer Texte, von der jetzt der 70. Band bei Böhlau erschienen ist. Er enthält 16 Zeugnisse österreichischer Schulkinder, die zwischen 1943 und 1945 „kinderlandverschickt“ wurden. „Kinderlandverschickung“ nannte das NS-Regime ein Programm, das Kinder aus vom Bombenkrieg besonders gefährdeten Gebieten in vermeintlich sicherere Gegenden verbrachte. Reichsweit waren zirka 2,2 Millionen Schulkinder davon betroffen. Für viele war das lebensrettend. Aber immer war es auch ein Herausholen aus der gewohnten Umgebung, immer die Trennung von Eltern, Geschwistern und Freunden. Und fast immer war es eine lagermäßige Unterbringung und das absolute Ausgeliefertsein dem nationalsozialistischen Erziehungssystem gegenüber. Das brachte Prägungen bis in das hohe Alter der Betroffenen mit sich.
Die Herausgeberin Veronika Siegmund stellte mit Erstaunen fest, dass es über die Kinderlandverschickung trotz ihrer Dimensionen kaum Literatur gibt. Es habe sich kaum jemand dafür interessiert, wurde ihr gesagt, wenn sie versuchte, das jahrzehntelange Schweigen zu ergründen. Ihr Buch bricht dieses Schweigen. Die aufgenommenen Berichte, Briefe und Dokumente erzählen die Geschichte dieser Mädchen und Jungen äußerst unterschiedlich. Sie haben aber ein einigendes Band. Es ist die Frage, warum tun wir unseren Kinder so etwas immer wieder an. Immer wieder …
Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser! Auch außerhalb Österreichs.
Veronika Siegmund (Hg.): „Kinderlandverschickt“. Schulkinder im Ausnahmezustand (1943–1945), Böhlau Verlag, Wien/Köln 2022, 296 Seiten, 32,00 Euro.
Schlagwörter: DDR-Wirklichkeit, Fotografie, JÜrgen Nagel, Kinderlandverschickung, Moritz Kirsch, Österreich, Sarah Kirsch, Veronika Siegmund, Wiedervereinigung, Wolfgang Brauer