25. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2022

E. T. A. Hoffmann und die zwingende Logik

von Robert Trieten

Wann können wir eine Zahl, die ein Quadrat ist,
als Summe zweier anderer Quadrate scheiben?
Diophantus, Arithmetik

Wie kommt ein Wirtschaftsjurist dazu, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Die Antwort ist einfach. Er kennt einen Autor, der regelmäßig für Das Blättchen über Kriminalfälle schreibt, aber auf die oben zitierte Frage keine Antwort weiß. Diese wiederum ist zu finden in dem Kriminalroman „Die Töchter des Kain“ vom berühmten Colin Dexter aus Oxford, in dem Inspector Morse und sein Assistent Sergeant Lewis munter und klug ermitteln.

Bei der Antwort kommt Pythagoras ins Spiel mit einem Satz, den wir alle aus der Schule kennen: In jedem Dreieck mit einem rechten Winkel ist die Summe der Quadrate über den kleinen Seiten so groß wie das Quadrat über der langen Seite. Also das berühmte a²+b²=c². Darauf bezieht sich ja auch das Zitat am Anfang: eine Zahl, die ein Quadrat ist, als Summe zweier anderer Quadrate darzustellen. 3, 4 und 5 ist dazu eine Lösung: 3²+4²=5² = 9+16=25.

Das ist eine zwingende Logik und die Lösung der Diophantus-Frage. Aber was hat das nun mit Kriminalfällen zu tun?

Morse und Lewis hatten den Mord an den Geschichtsprofessor der Oxford-Universität McClure aufzuklären. Dazu mussten sie einen zweiten Fall lösen – den Diebstahl eines Messers aus Nordrhodesien; zwischen beiden Fällen gab es zunächst keine Verbindung. Aber es gab eine, womit sich die Beweisführung grundsätzlich änderte und Morse „nur noch die Summe zu ziehen“ brauchte – natürlich im übertragenen Sinne. Denn der Inspector hatte in der Lösung nicht 25 herausbekommen, sondern „viel mehr“.

Geht denn das? Viel mehr? Ja, denn die zwingende Logik geht fehl, wenn die Prämissen nicht stimmen. „Weil wir angenommen haben, was wir annehmen sollten“ – so bringt Morse das Erkenntnisproblem auf den Punkt. Und solche falschen Ableitungen können dazu führen, dass entweder der Täter nicht ermittelt oder ein Unschuldiger verurteilt wird – wobei die zweite Alternative die schlimmere wäre.

Der Richter am Kammergericht Berlin E. T. A. Hoffmann hatte sich in einem Bericht an den preußischen Justiz- und den Innenminister im Jahr 1819 genau mit diesen Problemen auseinandergesetzt und geschrieben, dass Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit heiligste Pflichten jeden Richters sind: „Insbesondere haben wir uns jene Freiheit und Unbefangenheit des Gemüts erhalten, die dem Kriminalrichter eigen sein muß, um den gegen irgend jemanden streitenden Verdacht eines Verbrechens nur auf objektive Gründe zu bauen, da im Fall des Gegenteils, wenn nämlich subjektive Gründe gelten sollten, nur von einem Argwohn die Rede sein könnte, der zu keinem kriminalistischen Verfahren Anlaß geben kann und darf.“

Hoffmann prangerte die vermeintlich zwingende Logik an, die einen befällt, wenn man leichtfertig und ideologisch fehlgeleitet unrichtige Schlüsse zieht. So war er in Akten auf eine Tagebuchnotiz eines Beschuldigten gestoßen, in der es hieß: „Heute war ich mordfaul.“ Karl Albert von Kamptz, Hoffmanns mächtiger Gegenspieler als Direktor im Polizeiministerium, hatte diese Stelle in der für ihn typischen Art und Weise mit einem dicken Rotstift unterstrichen und daraus (vielleicht in einer Randnotiz?) ernsthaft gefolgert, dass es sich offensichtlich um die „Äußerung eines Anführers“ handele, „der heute einmal – ausnahmsweise – zum Morden zu faul“ sei. Was für eine irrwitzige Interpretation! Aber Kamptz war ein Feind aller demokratischen Bewegungen und Motor der sogenannten Demagogenverfolgung in der Zeit des Vormärz.

Die oft stümperhafte Arbeit der preußischen Polizei kritisierte Hoffmann heftig, in der sich die Meinung des Polizeidirektors durchgesetzt hatte, dass, wenn der Verbrecher erst einmal ausermittelt sei, sich das begangene Verbrechen von selbst finden wird. Und der Kammergerichtsrat macht Front gegen voreilige Schlüsse: „Endlich ist in den Akten noch oft des Umgangs, der näheren Bekanntschaft eines in Verdacht Geratenen mit einem anderen Verdächtigen, als Verdachtsgrund erwähnt. Dies hält aber vor dem Kriminalrichter nicht Stich, der niemals auf diese Weise schließen darf: A ist verdächtig, B ist ebenfalls verdächtig; B ist schon allein deshalb verdächtig, weil er mit A Umgang pflegt; und so umgekehrt.“

Auf eine solche seltsam-zwingende Logik machte neunzig Jahre später auch der Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle aufmerksam, und zwar im Zusammenhang mit polizeilichen Ermittlungen im wahren Fall Oscar Slater (Edinburgh 1909): „Das Ärgerliche an ihren Ermittlungen ist allerdings, dass sie, sobald sie glaubt, den richtigen Mann gefunden zu haben, nicht mehr offen ist für weitere Nachforschungen, die in andere Richtungen und zu anderen Schlüssen führen. Alles, was nicht in die offizielle Theorie passt, wird ausgesondert.“

Doch zurück zum Ausgangspunkt. Von Pierre de Fermat, dem genialen französischen Mathematiker, der 1665 starb, sagt Inspector Morse, dass er ein bemerkenswerter Mann gewesen sein muss, denn er hatte behauptet: Wenn man die ganze Sache nicht mit Quadrat-Zahlen macht, sondern mit Kubik-Zahlen (also hoch 3) oder noch höher (hoch 4, hoch 5 und so weiter), dann gibt es keine einzige Lösung. Und Fermat hatte dazu auf den Rand einer Buchseite geschrieben, dass er diese Behauptung beweisen könne, nur der Platz auf dem Rand reiche eben nicht aus.

Erst 1993 (!) ist es dem englischen Mathematiker Andrew Wiles gelungen, die Behauptung von Fermat, die er in das Buch gekritzelt hatte, tatsächlich zu beweisen. Man vermutet heute, dass das nichts als ein Bluff war (so wie der Diebstahl des Messers in dem Morse-Roman). Fermats Vermutung war zwar richtig, den Beweis blieb er uns allerdings schuldig.

Fermat hatte im Jahre 1640 seine freche Bemerkung nicht in irgendein Buch geschrieben, sondern in Diophanus‘ „Arithmetik“. Es war wohl seine Art der Ehrerbietung.

Und das Fazit der Geschichte: Behauptungen, die nicht bewiesen sind, haben im Strafprozess nichts zu suchen. Und auch vor Autoritätsbeweisen, beispielsweise von „berühmten“ Gutachtern, sollte man sich stets in Acht nehmen, denn auch die können sich irren oder bewusst das Falsche formulieren, wie die Kriminalgeschichte eindrucksvoll bewiesen hat. Besonders schwierig sind Vorhersagen. Gottlieb Daimler, der Automobilbauer, sagte im Jahr 1901, dass die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen eine Million nicht überschreiten werde, allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren. Nach Schätzungen fahren heute mehrere hundert Millionen Kraftfahrzeuge auf der Erde herum.