Putin sitzt auf einem Trümmerhaufen.
Herfried Münkler
Den Titel habe ich von Harry Nutt. Er hat ihn Ende Februar in der Berliner Zeitung verwandt. Ich fand ihn so treffend, dass ich gern weitertrage. Die Kernaussage in Nutts Text lautet: „Putins Traum von russischer Größe strotzt vor erschreckender Zukunftslosigkeit.“ Diese stehe sogar hinter der der Sowjetunion zurück; deren „Geschichte […] war von 1917 an auf die Gewissheit gegründet, mit dem Kommunismus einen Exportartikel zu haben, der sich auf kurz oder lang in der ganzen Welt durchsetzen werde. Auch wenn er sich bald als schlecht gebaute Attrappe erwies, war mit ihm doch die Idee einer besseren, gerechteren Welt verknüpft.“.
Seit Dezember 1999 ist Wladimir Putin der Mann an der Spitze Russlands. Sein System der Macht scheint heute übermächtig; schon im Oktober 2017 titelte der Economist: „A Tsar Is Born“; zu lesen über Putins Kopf, der auf einer hochdekorierten Uniform sitzt. Aber fragen wir, was heute dieses Riesenland Russland – insofern hat es quasi den Charakter einer eigenständigen Gesellschaft – „im Angebot hat“?
Natürlich offeriert Russland der Welt Gas und Erdöl und andere Rohstoffe, die es zuletzt auch gut verkaufte. Davon zeugen die Währungsreserven – 630 Milliarden US-Dollar –, im Zusammenhang mit der Ukraine-Aggression häufig als Putins „Kriegskasse“ apostrophiert. Die westlichen Sanktionen bewirken, dass Teile dieser Riesensumme im Moment nicht flüssig gemacht werden können, also auch nicht für die Kriegsführung. Der entscheidende Punkt ist jedoch der, dass eine fossile Gas- und Ölwirtschaft ohne Zukunft ist – sie wird Zug um Zug durch eine „grüne“ Energiewirtschaft abgelöst werden. Und möglicherweise beschleunigt gerade Putins Krieg diesen Ablöseprozess. Eine Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden kann: Ob und wenn ja, inwieweit die fossile Brennstoffwirtschaft nicht nur zur zerstörerischen Belastung der Natur, sondern auch Entstehung und Festigung autoritärer, repressiver politischer Strukturen führt …
Darüber hinaus bietet die russische Ökonomie nicht viel. Putins Wirtschaftspolitik wirkt erratisch, doch die radikalen Kurswechsel der letzten 20 Jahre verfolgen stets ein klares Ziel: Die Macht des Präsidenten zu erhalten. Seit 22 Jahren hangelt sich die russische Wirtschaft durch Phasen von Wachstum, Krise und zuletzt Stagnation. Für diese Dynamik hat sich, den Begriff „Reaganomics“ paraphrasierend, das Wort „Putinomics“ unter Fachexperten etabliert. Zwischen Markt und Plan ist in den „Putinomics“ alles möglich. Und dass das gegenwärtige Russland durch die Entwicklung moderner Produkte im zivilen Bereich von sich reden machte, ist auch nicht überliefert. Die Zukunftsfestigkeit und mehr noch die „Exportfähigkeit“ dieses Wirtschaftsmodells dürften desgleichen eher begrenzt sein.
Wichtiger, da die soziale Ordnung ausmachend, ist das ideelle Angebot. Wie eingangs zitiert, bestand dieses für die Sowjetunion in der Idee (und Praxis) des Kommunismus. Bezeichnend ist auf diesem Hintergrund, dass Putin, wie jetzt häufig zitiert, im Zusammenbruch ebendieser Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sah. Irgendwo las ich jetzt, Putin habe nicht von der „größten“ sondern nur von einer „großen“ Katastrophe gesprochen, was für die Überlegungen hier völlig unwichtig ist. Er meinte also eindeutig den Kollaps des Imperiums und nicht den der Ideologie; seine Geschichts- und die darauf fußende Annexionspolitik machen das auch deutlich.
Enthoben der Alltäglichkeit, geht es Putin um Russlands „historische Mission“ als wiederauferstandene Großmacht mit globalem Gestaltungsanspruch. In diesem Kontext fällt jetzt häufiger der Name des russischen Philosophen Alexander Dugin, der sich als Vertreter geopolitischen Denkens sowie als Vordenker eines „eurasischen“ – im Gegensatz zum „atlantischen“ – Kulturraums eingebracht hat. Dem entspricht die von ihm postulierte „Vierte politische Theorie“, die nach Liberalismus, Faschismus und Kommunismus am ehesten geeignet sei, das Überleben der Menschheit im Zeitalter der Globalisierung zu sichern. So stellt er in seinem 2017 verfassten „Manifesto for a global revolutionary Alliance“ fest, dass der Kapitalismus an seine natürliche Grenze gestoßen sei, die natürlichen Ressourcen erschöpft seien und dass der westlich-liberale, kosmopolitische Lebensstil sowie die Kälte des Internets zum Zerbrechen aller gesellschaftlichen Bindungen geführt hätten – womit auch das herkömmliche Verständnis von Individualität und Individuen zerstört sei.
Dabei stehe Russland wie eine Festung vor allem gegen den Westen, von dem es immer wieder verraten worden sei; das jedenfalls meint Sergej Karaganow, russischer Politologe, weniger bekannt als Dugin, aber meiner Meinung nach wesentlicher als dieser. Über seine Nähe zum „Kreml“ will ich hier nicht spekulieren. Es lohnt sich jedenfalls, ihn in längeren Passagen zu zitieren und nicht (nur) zu interpretieren: „Wir folgen heute unterschiedlichen ideologischen Trends: Während die Russen versuchen, Europäer der alten Garde zu sein, bewegt sich der Westen in Teilen auf eine posteuropäische Phase zu. […] In Syrien haben wir die neuen Fähigkeiten unserer Streitkräfte unter Beweis gestellt und Terroristen fernab unserer eigenen Grenzen bekämpft. […] Indem wir eine NATO-Erweiterung (um die Ukraine und Georgien – St.W.) verhindern, stärken wir den internationalen Frieden – das macht uns quasi zu den wichtigsten Friedensstiftern für die Welt. […] Wenn wir zehn bis 15 Jahre in die Zukunft blicken, ergibt sich ein ganz anderes Bild als heute. Mittel- und Südeuropa werden sich in Richtung Groß-Eurasien orientieren, während Nordwesteuropa wahrscheinlich Teil einer ‚pax americana‘ sein wird. Die deutsche Frage wird in diesem Zusammenhang wieder auftauchen, wie sie das irgendwie immer tut. […] Wenn wir einen großen Krieg vermeiden, dann bin ich überzeugt davon, dass die Welt ein viel angenehmerer und freierer Ort sein wird.“ So Karaganow in einem kürzlich von Anne Liebig und Robert Perischa vom Mateschitz-Organ Der Pragmaticus geführtem Interview.
„Die Welt ein viel angenehmerer und freierer Ort“ – das verheißt Gutes, eine bessere Zukunft, keine „Zukunftslosigkeit“. Doch schon im nächsten Satz liefert Karaganow die Klarstellung, ja Ernüchterung: „Nicht unbedingt für das Individuum, aber für die Nationen“. Klingt fast wie „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Das sagte 1924 Heinrich Deist, damals Sozialdemokrat, später Nazi. Dieses Vexierspiel von Einzelnem und Masse (und Macht) hat offenbar enorme Anziehungskraft auf Ideologen jedweder Couleur. Gesellschaften, die sich davon leiten ließen, machten die Welt nicht besser; im Gegenteil. Karaganows Welt, diese „russki mir“ kann so desgleichen kein „Angebot“ sein, da von erwiesener „erschreckender Zukunftslosigkeit“.
Schlagwörter: "Groß-Eurasien", Russland, Sergej Karaganow, Stephan Wohanka