Zu den wichtigen Gründen, die zur Niederlage des im November 1830 in Warschau ausgebrochenen Aufstands gegen die Zarenherrschaft in Polen führten, zählen die vielfache militärische Unterlegenheit sowie die Tatsache, dass die Aufständischen keine wirksame Hilfe von außen bekamen. England war an den Entwicklungen in Belgien und Frankreich interessiert, Frankreich hielt sich die Sache vom Halse, Preußen und Österreich waren gleichermaßen neutral wie zarenfreundlich. Dennoch hielten sich die tapfer schlagenden Polen lange, erst Anfang September 1831 stürmte die Zarenarmee Warschau, bis zuletzt hielt sich die Festung in Zamość, die erst am 21. Oktober 1831 aufgab. Dem infolge der Niederlage quer durch die deutschen Lande, durch Belgien und Frankreich ziehenden Strom der Großen Emigration wurde alle Sympathie gezollt. Dem zum Zarenreich gehörenden Teil Polens selbst wurde die auf dem Wiener Kongress 1815 vereinbarte, wiewohl nie durchgehaltene Autonomie genommen – die Zarenknute wurde ungleich fester.
Inmitten all der Verzweiflung fand der polnische Historiker Joachim Lelewel das Losungswort, das eine symbolische Brücke zurück zum gescheiterten Aufstand der Dekabristen in Petersburg 1825 schlug und bis heute an seiner tiefen solidarischen Bedeutung für Freiheitsbewegungen nichts verloren hat: Für eure und unsere Freiheit!
Besten Beweis dafür lieferten immerhin Karl Marx und Friedrich Engels in den Zeiten des letzten polnischen Nationalaufstands gegen die Zarenherrschaft. Der brach im Januar 1863 aus, hatte wiederum kaum Chancen auf Erfolg, auch dabei spielten ähnliche Gründe wie 1830/31 eine wichtige Rolle. Die aufständischen Polen – Sympathie hin, Sympathie her – blieben alleingelassen und unterlagen dem militärisch übermächtigen Gegner. Im April 1864 war der ungleiche Kampf beendet, General Romuald Traugutt, der letzte Anführer der Aufständischen, wurde wenige Monate später vor der Warschauer Zitadelle gehenkt. Marx hatte im Februar 1863, als noch alle Hoffnung mitschwang, Engels befragt: „Was sagst Du zu der Polengeschichte? So viel ist sicher, die era of revolution ist nun wieder fairly opened in Europe.“ Und der Freund antwortete prompt: „Die Polen sind ganz famose Burschen. Wenn sie sich halten bis zum 15. März, so geht’s in ganz Russland los. Im Anfang hatte ich höllische Angst, die Sache müsse schief gehn. Jetzt aber sind die Chancen des Siegs denen der Niederlage fast schon überlegen.“ Wie entsetzt und enttäuscht beide später waren, als deutlicher abzusehen war, dass das Zarentum mittels unbarmherzigen Feldzugs doch wieder als Sieger aus der Schlacht hervorgehen wird, braucht hier nicht näher beschrieben zu werden.
Die Liste historischer Ereignisse, die passend unter das Lelewel-Motto zu fassen wären, ist alles andere denn kurz. Immer ging es dabei um den Kampf gegen die hegemonialen Ansprüche Russlands und später Moskaus gegenüber seinen Nachbarn oder gegenüber anderen Ländern, die dem eigenen Einflussbereich zugerechnet wurden. Inmitten des russisch-japanischen Kriegs 1904/05 gab es eine Verordnung des russischen Bildungsressorts, wie an den Schulen generell über den „Krieg“ zu sprechen sei. Erstens sei die Geschichte der Ausbildung des gewaltigen russischen Staatsterritoriums eine nahezu natürliche Folge des Flachlandcharakters des Gebiets, das von der Ostsee bis zum Stillen Ozean reiche. Zweitens sei das Verhältnis der Russen zu den entweder friedlich angeschlossenen oder aus Not befreiten Völkern und Völkerschaften stets von christlicher Gutmütigkeit geprägt gewesen. Drittens hätten Russlands Feldzüge immer nur der Rückeroberung uralten Besitzstands – wie zum Beispiel im Baltikum – oder der Feststellung sicherer Grenzen gedient. Die westeuropäischen Kriege hingegen dienten meistens der schieren Eroberung und dem materialen Gewinn. Und schließlich sei der Hauptzug der neueren russischen Geschichte überhaupt die tiefe Neigung zum Frieden.
In Karol Sauerlands Tagebuch – Anfang des laufenden Jahres auch im Blättchen besprochen – findet sich eine überraschende, Anfang 1991 aufgezeichnete Notiz: „Die Polen scheinen nicht zu ahnen, dass sie in den Augen der Russen nach wie vor einen Teil ihres Reiches bilden.“ Seitdem ist sehr viel Zeit ins Land geflossen, die Dinge haben sich ganz sicherlich verändert, Polen ist auch „in den Augen der Russen“ immer mehr zu einem festen, gesicherten Teil des Westens geworden. Wenn im Kreml jetzt hartnäckig gefordert wird, das westliche Militärbündnis solle sich aus Staaten wie Polen, Estland, Lettland oder Litauen zurückziehen, schwingt ganz sicher ein alter Reichsgedanke oder -traum mit. Allerdings ist der schwarze Peter, den einst die Polen in den Händen hielten, inzwischen weitergewandert. Heute – aller Welt wird das nun mit Putins neuestem Feldzug vorgeführt – gilt der Fluch Kiew, der von Moskaus Gnaden unabhängigen Ukraine.
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